Den medizinischen Standard hat der Tatrichter mit Hilfe eines Sachverständigen zu ermitteln - er darf dies nicht aus eigener Sachkunde tun. Das Gericht darf sich nicht über die Beurteilung des Sachverständigen hinsichtlich des Vorliegens eines Behandlungsfehlers aufgrund eigener Erwägungen hinwegsetzen. Das Gericht darf nicht aus eigener Sachkunde beurteilen, ob ein Fehler als grob oder einfach einzustufen ist - es muss dazu den Sachverständigen befragen, auch wenn es letztlich selbst entscheidet, ob der Fehler als grob oder einfach einzustufen ist (BGH, Urteil vom 24.2.2015 - VI ZR 106/13).

Der Fall:

Der im Jahr 1975 geborene Sohn der Klägerin litt unter einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, weshalb er mehrfach - zuletzt im Januar 2004 - stationär behandelt wurde. In den Entlassungsberichten der R. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 24. Juli 2003 und 30. April 2004 wurde jeweils eine bradykarde Herzaktion vermerkt. Am 25. Juli 2003, 22. Dezember 2004, 18. Mai 2005 und 24. August 2005 suchte der Sohn der Klägerin den Beklagten zu 1 in der von den Beklagten geführten Gemeinschaftspraxis für Neurologie und Psychiatrie auf. Am 22. Dezember 2004 erhielt er vom Beklagten zu 1 80 Tabletten Amisulprid 200. Am Morgen des 17. Oktober 2005 fand die Klägerin ihren Sohn leblos in seinem Bett liegend auf. Im Bad befand sich Erbrochenes. Bei der rechtsmedizinischen Untersuchung wurde ein Amisulpridspiegel am oberen Grenzwert des Wirkbereichs festgestellt und ein rhythmogenes Herzversagen nach Einnahme von Amisulprid als naheliegende Todesursache angenommen.

Die Klägerin macht geltend, die Beklagten hätten angesichts der kardiologischen Nebenwirkungen von Amisulprid und des Umstands, dass bei ihrem Sohn Bradykardien aufgetreten seien, halbjährliche EKG-Untersuchungen veranlassen müssen. Dabei wären eine Bradykardie sowie ein verlängertes QT-Intervall festgestellt worden, die ein sofortiges Eingreifen, insbesondere eine Umstellung der Medikation, erfordert hätten.

Das Landgericht wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht wies die Berufung zurück. Die Klägerin legte Revision ein.

Die Entscheidung:

Der Bundesgerichtshof sah es als rechtsfehlerhaft an, wie das Berufungsgericht den medizinischen Standard definierte, wie es die Fragen des Vorliegens eines Behandlungsfehlers und dessen rechtliche Einordnung beantwortete und sich dabei von dem Gutachten des Sachverständigen distanzierte.

Der Tatrichter darf den medizinischen Standard nicht ohne eine entsprechende Grundlage in einem Sachverständigengutachten oder gar entgegen den Ausführungen des Sachverständigen aus eigener Beurteilung heraus festlegen. Wie die Revision zu Recht beanstandet, hat das Berufungsgericht im Streitfall eine von der Beurteilung der gerichtlich bestellten Sachverständigen abweichende, eigene medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens vorgenommen ohne aufzuzeigen, dass es über die erforderliche Sachkunde verfügt. Es hat damit den medizinischen Standard in unzulässiger Weise selbst bestimmt.

Die Revision beanstandet … mit Erfolg, dass das Berufungsgericht das Unterlassen halbjährlicher EKG-Kontrollen nicht als groben, sondern als einfachen Befunderhebungsfehler eingestuft hat. Diese Beurteilung findet in den Ausführungen der Sachverständigen keine Grundlage. Zwar handelt es sich bei der Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob um eine juristische Wertung, die dem Tatrichter obliegt. Indessen muss diese wertende Entscheidung in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können. Es ist dem Tatrichter nicht gestattet, den Behandlungsfehler ohne entsprechende Darlegungen aufgrund eigener Wertung als grob oder nicht grob zu qualifizieren.

Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet auch die Annahme des Berufungsgerichts, die Patientenseite müsse bei einem einfachen Befunderhebungsfehler die gebotene Reaktion auf den hypothetischen Befund in fachlichmedizinischer Hinsicht konkret substantiieren; soweit die Klägerin ausführe, die Bestätigung der Bradykardie hätte ein sofortiges Eingreifen notwendig gemacht sowie eine Beendigung der Medikation mit Amisulprid gefordert, bleibe dies formelhaft und abstrakt. Hierbei hat das Berufungsgericht übersehen, dass an die Substantiierungspflichten der Parteien im Arzthaftungsprozess maßvolle und verständige Anforderungen zu stellen sind. Vom Patienten kann regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden. Der Patient und sein Prozessbevollmächtigter sind insbesondere nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Vielmehr darf sich die Partei auf Vortrag beschränken, der die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Arztes aufgrund der Folgen für den Patienten gestattet.
Diesen Anforderungen genügte der Vortrag der Klägerin. Wie die Revision mit Erfolg geltend macht, hatte die Klägerin bereits in der Klageschrift vorgetragen, dass bei der EKG-Kontrolle die Bradykardie bestätigt worden und eine verlängerte Herzreizweiterleitung bei ihrem Sohn festgestellt worden wäre, die ein sofortiges Eingreifen, insbesondere eine sofortige Beendigung der Medikation mit Amisulprid notwendig gemacht hätte. Die aufgrund eigener - nicht ausgewiesener - Sachkunde getroffene Beurteilung des Berufungsgerichts, die weitere Einnahme von Amisulprid sei "alternativlos" gewesen, weshalb der Sohn der Klägerin das Risiko der Nebenwirkungen habe eingehen müssen, wird durch das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht getragen.

Der Fall wurde an das Berufungsgericht zurück überwiesen, damit dieses den Sachverständigen zu den noch offen stehenden Punkten befragt.

Anmerkung:

Die Entscheidung bedeutet in der Praxis, dass sich das Gericht dem Votum des Gutachters unterwerfen muss. Das bedeutet zugleich, dass ein Gutachten von einer Partei mit Aussicht auf Erfolg nur dann angegriffen werden kann, wenn diese ein Gegengutachten vorlegt. Denn dann "darf" sich das Gericht - soweit es seine Erwägungen nachvollziehbarer findet - wiederum auf den Gegengutachter stützen (bzw. dessen Meinungen im Urteil "nachzeichnen"). All dies ist logische Folge des eklatanten Wissensmangels des Gerichts bezüglich medizinischer Fachfragen. Das ist für Richter einerseits frustrierend, andererseits stellt es eine Arbeitserleichterung dar. Für die Parteien bedeutet es, dass der Gutachter (bzw. Gegengutachter) vom gerichtlichen Helfer de facto zum Richter wird. 

Zum Thema:

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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