(31.12.2016) Das Kammergericht sieht das Interesse des Patienten auf Einsicht in seine Behandlungsunterlagen als weitgehend wertlos an (KG Berlin, Beschluss vom 01. Dezember 2016 – 20 W 67/16). Darin kommt ein fatales Mißverständnis der Bedeutung zum einen der Behandlungsunterlagen als auch der Rechte des Patienten zum Ausdruck, weshalb diese Entscheidung äußerst kritisch gesehen werden muss.

Behandlungsunterlagen sind für den Patienten sehr wichtig - das Kammergericht sieht das aber nicht soDie Patientin forderte den sie behandelnden Arzt auf, ihr Einsicht in ihre Behandlungsunterlagen zu gewähren. Der Arzt gewährte ihr dies nicht. Die Patientin erhob später Klage gegen den Arzt und warf ihm Behandlungsfehler vor.

Zusammen mit der Klage beantragte sie, dass der Arzt verurteilt wird, ihr Einsicht in ihre Behandlungsakte zu gewähren (schließlich hat sie darauf nach § 630 g BGB einen gesetzlichen Anspruch).

Nachdem das Landgericht Berlin über die Klage entschieden hatte, kam es zum Streit über den Gegenstandswert der Klage, also die Frage, wie hoch die einzelnen Klageanträge zu bewerten sind. So wurde dem Antrag auf Zahlung von Schmerzensgeld ein bestimmter Wert zugewiesen sowie auch dem Antrag auf Einsicht in die Behandlungsunterlagen. Das Landgericht hatte die Einsicht sehr niedrig bewertet, mit genau 325 Euro.

Das Kammergericht bestätigte diesen niedrigen Wert. Mehr sei der Anspruch auf Einsicht nicht wert. Dazu das KG:

"Die Klägerin hat diese Klage erhoben, ohne im Besitz der Unterlagen zu sein, so daß nicht davon auszugehen ist, daß die Patientenunterlagen zur Vorbereitung der Klage erforderlich waren, mag die Klägerin den Beklagten auch vorprozessual ergebnislos zur Herausgabe der Unterlagen aufgefordert haben."

Schon diese Einschätzung ist nicht nachvollziehbar. Dass ein Patient Klage erhebt, ohne die Behandlungsakte gelesen zu haben, ja sie überhaupt lesen zu können, bedeutet doch nicht, dass die Einsicht "nicht erforderlich" war. Der Patient muss in dieser Situation vielmehr "ins Blaue hinein" klagen, höhere Prozeßrisiken eingehen und muss damit rechnen, dass der Arzt im Prozess eine Akte präsentiert, in der auf wundersame Weise belastende Fakten fehlen oder entlastende Faktoren (z.B. Vermerke betreffend bestimmter Aufklärungsgespräche) auftauchen. Die "Akte" ist sowohl im Straf-, im Verwaltungs- als auch im Zivilrecht, DER zentrale Teil der Dokumentation, quasi das Gerüst für jede Rekonstruktion des Falls. Die Akte ist damit eminent wichtig. Vernichtet z.B. der Bundesnachrichtendienst Akten betreffend Informanten der rechten Szene, so scheitert eine Rekonstruktion der Vorgänge durch Dritte - mit dem Verlust der "Akte" stirbt auch der dahinter stehende Fall. Vernichtet der Arzt die Behandlungsakte, so erschwert er dem Patienten die Geltendmachung von Arzthaftungsklagen - dass der Patient in diesem Fall gewisse Beweiserleichterungen zugesprochen bekommen kann, wiegt diesen Verlust an Informationen nicht auf.    

Der Patient will nach meiner Erfahrung zuersteinmal seine Akte lesen, um überhaupt zu erfahren, was da mit ihm während der ärztlichen Behandlung geschehen ist: Welche Operationsmethode verwendete der Arzt? Gab es Komplikationen? Welche Medikamente habe ich erhalten? Dieses nachvollziehbare Interesse des Patienten wird hier auf Null entwertet, wenn es "als nicht erforderlich" angesehen wird. 

Weiter führt das KG aus:

"Erhebt der Patient gegen den Arzt Schadensersatzklage und gleichzeitig Klage auf Herausgabe der Patientenunterlagen, wird der auf den Herausgabeantrag entfallende Streitwert regelmäßig von demjenigen der Hauptsache konsumiert, rechtfertigt jedenfalls nicht eine über einen geringen Betrag hinausgehende Streitwertfestsetzung. Diesem Streitwert kommt keine selbstständige Bedeutung zu. Das Gericht hat die Patientenunterlagen im Arzthaftungsprozeß ohnehin und von Amts wegen beizuziehen oder deren Vorlage dem Beklagten oder einem Dritten, auch am Verfahren nicht beteiligten Ärzten, aufzugeben." 

Auch dies muss kritisch hinterfragt werden. Die Einsicht in die Behandlungsunterlagen ist kein bloßer Anhang zur Arzthaftungsklage. Es ist vielmehr ein eigenständiges Recht des Patienten. Die Behandlungsakte ist für viele rechtliche Bereiche bedeutsam, nicht bloß für das Arzthaftungsrecht. So z.B. für unfall- und krankenversicherungsrechtliche Fragen wie auch für arbeitsrechtliche Fragen. Selbst wenn der Patient ohne jeden weiteren Grund Einsicht in seine Akte wollte, ist ihm diese zu gewähren. § 630 g BGB verlangt keinen Grund. Indem das Kammergericht aber die Einsicht an die Arzthaftungsklage koppelt, entwertet es das Recht auf Einsicht.

Diese Entwertung kann für den Patienten nachteilige Folgen haben. "Knausert" das Gericht hier beim Gegenstandswert, so hat der Arzt, der die Akte nicht herausgibt, nur ein geringes Kostenrisiko, wenn ihn der Patient (isoliert) auf Herausgabe verklagt. Da ohnehin nur wenige Patienten klagen wollen, kann dies im Ergebnis dazu führen, dass Ärzte Einsichtsbegehren immer stiefmütterlicher behandeln. Und viele Patienten, die keine Einsicht in ihre Akte erhalten, dürften die Erhebung einer Arzthaftungsklage "ins Blaue hinein" scheuen.    

Fazit:

Wegen des erheblichen tatsächlichen Informationswertes der Behandlungsakte, ihrer zentralen Bedeutung im Arzthaftungsverfahren und des hohen und schützwürdigen Informationsinteresses des Patienten ist der Gegenstandswert der Einsicht hoch anzusetzen. Zumindest sollte der Auffangstreitwert von EUR 4.000 angesetzt werden.  

Praxistipp:

Patienten, denen die Einsicht vom Arzt verweigert wurde, sollten dem Arzt ihre gesetzliche Krankenversicherung auf den Hals hetzen nach § 66 SGB V, indem sie die Kasse bitten, sie bei der Geltendmachung von Arzthaftungsansprüchen gegen den Arzt zu unterstützen (wobei allerdings der Patient den Behandlungsfehler zumindest in groben Zügen beschreiben muss, weil die Kasse sonst nicht weiss, wonach sie suchen soll). Die Forderung der (schlagkräftigen) Krankenkasse auf Akteneinsicht wird der Arzt nicht so einfach verweigert werden. Der Patient kann dann die Kasse bitten, ihm eine Kopie der Behandlungsunterlagen zu übersenden, die die Kasse vom Arzt erhalten hat.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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