(15.2.17) Ein Klinikarzt muss eine Patientin, die sich mit der Verdachtsdiagnose "Herzinfarkt" auf der Intensivstation vorstellt, nicht unmittelbar zu Beginn des ersten Gesprächskontakts darauf hinweisen, dass dann, wenn die Patientin sich absprachewidrig aus der Klinik entfernt, eine lebensbedrohliche Situation entstehen könnte. Ein Arzt muss nämlich nicht in jeder Minute eines Aufenthaltes einer Patientin in einer Klinik damit rechnen, dass sich die Patientin plötzlich unerwartet und absprachewidrig entfernt. Daher ist in diesem Fall eine Haftung wegen eines Aufklärungsfehlers - in Gestalt des Unterlassens der Sicherungsaufklärung - nicht zu erkennen (OLG Frankfurt, Urteil vom 24. Januar 2017 – 8 U 119/15).

Das EKG war hier unauffälligKommentar:

Die Entscheidung des OLG Frankfurt (8 U 119/15) weist einen elementaren Denkfehler auf. Tatsächlich liegt hier ein Aufklärungsfehler vor:

Nach Angaben des Klinikarztes sagte er zu der Patientin, sie solle sich überlegen, ob sie nicht zur Beobachtung aufgenommen werden will. Er werde in Kürze zurückkehren, sie solle sich dann entscheiden, wie die Behandlung weitergehen solle. Dann habe er den Raum verlassen, um sich um einen Notfalll zu kümmern. Wie der Arzt selbst sagt, hat er der Patientin nicht gesagt, dass sie während der Nacht versterben kann, wenn sie einen Herzinfarkt hatte und die Klinik wieder verlässt. 

Damit hat der Arzt der Patienten nicht alle für die Entscheidungsfindung erforderlichen Informationen gegeben. Die wichtigste Information - der Hinweis auf das Todesrisiko - fehlte. Selbst wenn die Patientin noch anwesend gewesen wäre, als der Arzt von der Behandlung des Notfalls zurückkehrte, hätte sie sich möglicherweise ebenfalls gegen eine stationäre Aufklärung entschieden. Es ist nicht erkennbar, warum der Arzt ihr nach seiner Rückkehr weitere Informationen zu den Risiken hätte geben sollen. Der Umstand, dass die Patientin zwischenzeitlich ging, ist daher für die Qualität und Vollständigkeit der Sicherungsaufklärung völlig unerheblich.  

Richtigerweise muss der Arzt die Patientin sehr wohl sogleich umfassend aufklären, bevor er sie "zur Entscheidungsfindung" allein lässt. Wie soll sie sonst eine ordnungsgemäße Entscheidung treffen? Der Klinikarzt sagte selbst: "Die Ehefrau des Klägers habe aber keine stationäre Aufnahme gewollt. Im Grunde genommen sei auch nur über die stationäre Aufnahme diskutiert worden." Damit gesteht er selbst ein, dass zu befürchten war, dass die Ehefrau des Klägers gehen will. Spätestens jetzt hätte der Klinikarzt sie eindringlich auf das Risiko des Todes hinweisen müssen. 

Dass der Klinikarzt erkennbar "im Stress" war, weil er auf der Station noch einen Notfall zu versorgen hatte, ist nicht das Problem der Patientin. Er hätte der Patientin sagen sollen, dass sie bitte warten soll, bis er den Notfall versorgt hat, um die Patientin danach in Ruhe untersuchen und vollständig aufklären zu können, bevor er sie entscheiden lässt, ob sie sich stationär aufnehmen lässt. Oder er hätte die Versorgung des anderen Notfalls einem anderen Arzt überantworten müssen, um sich sogleich umfassend der Patienten zu widmen.

Insofern kommt es auf die Fragen, die das OLG bis in die kleinsten Verästelungen hinein durchdiskutiert - insbesondere die Glaubwürdigkeit der Parteien - nicht entscheidend an. Im übrigen übersieht das Landgericht, dass der Kläger in der Nacht nach dem streitigen Gespräch in der Klinik seine Frau verloren hat. Erfahrungsgemäß können solche traumatisierenden Erlebnisse die Erinnerung an vorangegangene, zuersteinmal als banal erlebte Situationen wie die Übergabe eines EKGs verblassen lassen. Was interessiert es den Kläger, ob er dem Arzt ein EKG und eine Einweisung übergeben und dann wieder mitgenommen hat, wenn Stunden später seine Ehefrau neben ihm verstorben ist? Hat das OLG mal daran gedacht, dass der Kläger (bzw. sein Rechtsanwalt !) die Einweisung dem OLG übergeben hat (die der Kläger nie in Händen gehabt haben will), weil der Rechtsanwalt des Klägers die Einweisung durch eine Akteneinsicht vom vorbehandelnden Arzt erhalten hat? Bevor das OLG seine Entscheidung derart auf diesen (Neben-)Aspekt stützt, müsste es den Kläger dazu ersteinmal befragen.

Und dass die Patientin die Klinik "absprachewidrig" und unerwartet verlassen hat (ein Punkt, der für das OLG erkennbar entscheidungserheblich war) ist meines Erachtens gar nicht klar festgestellt worden vom OLG. In der Begründung finden sich keine Auführungen zum Thema "Absprachen" oder ähnliches. Es findet sich lediglich die Behauptung des Klinikarztes, er habe der Patientin vor dem Verlassen des Raumes gesagt, "sie solle sich dann nach seiner Rückkehr abschließend entscheiden". Das mag eine Anweisung oder ein Vorschlag sein, auf die Rückkehr des Arztes zu warten - eine Absprache ist daran nicht zu erkennen, denn was soll die Patientin anderes tun als dies hinzunehmen, wenn der Arzt mit eben diesen Worten den Raum verläßt? Es ist auch nicht erkennbar, dass der Klinikarzt der Patientin gesagt hätte, er komme gleich wieder und werde ihr dann weitere Informationen geben (die sie für ihre Entscheidung) benötigte. Die Patientin konnte vielmehr den Eindruck haben, dass alles gesagt ist. Und da ihr ein Todesrisiko nicht bekannt war, ist sie eben gegangen (um am kommenden Tag wiederzukommen), weil sie glaubte, ansonsten nutzlos über Nacht in der Klinik bleiben zu müssen. Dass sie wenig Veranlassung hat, über Nacht zu bleiben, hatte sie dem Klinikarzt ja bereits mitgeteilt. Insofern war ihr Widerstand gegen eine Übernachtung in der Klinik auch nicht unerwartet.

Auch die Ausführungen des OLG zu der Behandlungsdokumentation sind fehlerhaft. Das OLG geht davon aus, dass hier nichts dokumentiert werden musste, weil die Patientin "keine Behandlung wünschte". Das OLG übersieht hier zuersteinmal, dass bereits eine Behandlung in der Klinik stattgefunden hatte: Der Klinikarzt hatte die Patientin, die ihm telefonisch von einem vorbehandelnden Arzt angekündigt worden war, nämlich selbst gesehen und mir ihr gesprochen, wobei diese keine Beschwerden äußerte. Damit hat er sie selbst untersucht (wenn auch nur kurz) und nach eigenen Angaben ein EKG geprüft. Er hat ihr dann nach seinen Angaben einen vorläufigen Zwischenbefund und einen Vorschlag für die Behandlung mitgeteilt. Das ist bereits eine Behandlung. Zum anderen übersieht das OLG, dass die Patientin gesagt haben will, dass sie am nächsten Tag wiederkommen wollte - sie wünschte also eine Weiterführung der Behandlung, aber eben nicht jetzt, sondern in acht oder zehn Stunden. Folgerichtig war hier zu dokumentieren. Dokumentiert hat der Klinikarzt aber nichts. Was dokumentationspflichtig ist, aber nicht dokumentiert wurde, gilt ersteinmal als nicht geschehen. Somit gilt auch der vermeintliche, absprachewidrige Behandlungsabbruch (der eine dokumentationspflichtige Tatsache darstellt) der Patientin ersteinmal als nicht existent. Dann hätte der Klinikarzt den Beweis antreten müssen, dass die Patientin die Behandlung abgebrochen hat. Dazu wären zuersteinmal Überlegungen anzustellen gewesen, was hier überhaupt die "Behandlung" ist und ob diese überhaupt abgebrochen wurde, wenn die Patientin doch zurückkommen wollte. 

klärende Revision wäre zu begrüßen

Kernsatz des Urteils ist, dass ein Klinikarzt eine Patientin, die sich mit der Verdachtsdiagnose "Herzinfarkt" auf der Intensivstation vorstellt und die sagt, dass sie die Nacht lieber zu Hause verbringen möchte, nicht unmittelbar zu Beginn des ersten Gesprächskontakts darauf hinweisen muss, dass dann, wenn die Patientin sich absprachewidrig aus der Klinik entfernt, eine lebensbedrohliche Situation entstehen könnte. Nach § 630e Abs. 1 BGB (einer aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Vorschrift) ist der Patient über „sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände“ aufzuklären. Nach der Rechtsprechung des BGH hat dies zu einem Zeitpunkt zu geschehen, dass der Patient noch Gelegenheit hat, das Für und Wider der Behandlung abzuwägen (BGH NJW 1999, 2351). Ein Widerspruch des Urteils des OLG zur Rechtsprechung des BGH ist daher erkennbar. Gleichwohl hat das OLG die Revision zum BGH nicht zugelassen. 

Praxisanmerkung:

Der Patient sollte peinlich genau darauf achten, was er im Zivilverfahren vorträgt oder vortragen lässt, um zu verhindern, dass sich - wenn auch nur geringe - Abweichungen zu früherem Vortrag (z.B. auch in einem Schlichtungsverfahren) ergeben. Wie man hier sieht, greifen Richter vermeintliche Unregelmäßigkeiten im Aussageverhalten auf, um die Glaubwürdigkeit im Ganzen in Abrede zu stellen. Leider geschieht dies oft erst im Urteilstext - in der Verhandlung lassen die Richter ihre Skepsis nicht durchblicken.

Der Anwalt sollte daher am Ende der mündlichen Verhandlung das Gericht immer um eine vorläufige (und ausführliche) Einschätzung hinsichtlich des Beweisergebnisses bitten. Hier ist es angeraten, dem Gericht auch Fragen zu stellen. Dann kommen nämlich solche Rückschlüsse des Gerichts möglicherweise ans Licht. Dann kann der Anwalt dazu entweder sofort Stellung nehmen und Mißverständnisse ausräumen bzw. Schriftsatznachlaß verlangen, um in Ruhe dazu schriftlich Stellung nehmen zu können. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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