(6.3.2018) Auf die Untersuchung des ungeborenen Kindes in der Schwangerschaftsbetreuung finden die bei einem Befunderhebungsfehler anzuwendenden Regeln über die Beweislastumkehr keine Anwendung. Die Beweislast, dass der Arzt die Schwangere bei einem auffälligen Befund nicht beraten hat über die Möglichkeit einer Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese), trägt die Schwangere. Dies gilt auch dann, wenn der vom Arzt behauptete (und ihn entlastende) Hinweis, dass die Schwangere eine solche Amniozentese nicht wünscht, nicht in den Mutterpass eingetragen wurde (Oberlandesgericht Dresden, Urteil vom 20. Dezember 2017 – 4 U 966/17).

NeugeborenesDer Fall:

Die Mutter eines später mit Trisomie 13 und Monosomie geborenen Kindes wirft den behandelnden Ärzten vor, ihnen sei bei der Schwangerschaftsbetreuung ein grober Befunderhebungsfehler durch Wahl falscher Referenzebenen bei dem Ersttrimesterscreening unterlaufen. Bei richtiger Befunderhebung hätte noch eine Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt werden können, die die Trisomie 13 gezeigt hätte. Dann hätte die Mutter einen Schwangerschaftsabbruch durchführen und den Geburtsschaden verhindern können.

Die Entscheidung:

Das OLG Dresden verneint einen Befunderhebungsfehler der Ärzte, die die Mutter während der Schwangerschaft betreuten. Wesentliche Erwägung des OLG Dresden ist, dass hier Besonderheiten des Einzelfalles vorlägen, die eine Anwendung der Grundsätze über den Befunderhebungsfehler verbiete (und die die damit einhergehenden Beweislastregeln im Falle eines hinreichend wahrscheinlichen reaktionspflichtigen Befundes).

Anmerkung:

Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Hat ... die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat - er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die MEDIZINISCH GEBOTENEN medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären - dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen (BGH, Urteil vom 26. Januar 2016 – VI ZR 146/14, Rz. 6 juris).

Tragend ist dabei die Erwägung des OLG Dresden, dass sich kein reaktionspflichtiger Befund ergeben hätte (selbst wenn der Arzt eine ordnungsgemäße Diagnostik durchgeführt hätte), weil die Trisomie 13 bzw. 18 als genetischer Defekt ohnehin keiner ärztlichen Reaktion, sprich einer (medizinischen) Behandlung zugänglich sei.

Praxisanmerkung:

Dies überzeugt nicht. Die Schwangerschaft ist keine Krankheit sondern ein natürlicher Vorgang. Die ärztlichen Untersuchungen einer Schwangeren und ihres ungeborenen Kindes sind damit keine klassische medizinische Behandlung (im Sinne eines Linderns, Verhindern oder Heilens von Leiden und Erkrankungen). Es handelt sich vielmehr um die medizinische Begleitung eines natürlichen Vorgangs. Folglich ist wesentliche Vertragspflicht des Arztes bei einer Schwangerschaftsbetreuung, die Eltern über die erkennbaren Gefahren einer Schädigung der Leibesfrucht zu beraten. Wesentliche Vertragspflicht ist also nicht eine Heilbehandlung der Schwangeren oder des ungeborenen Kindes - im Normalfall sind beide gesund und es kommt zu einer komplikationslosen Geburt. Wenn also Schwangerschaft keine Krankheit ist, kann bei der Frage der Fehlerhaftigkeit der ärztlichen Schwangerschaftsbetreuung nicht auf die Fachbegriffe einer Krankheitsbehandlung abgestellt werden. Wenn das OLG Dresden aber einen reaktionspflichtigen Befund in Gestalt einer ärztlichen "Behandlung" verlangt, so setzt es den falschen Maßstab an. In der Schwangerschaftsbetreuung hat der Arzt die Mutter über erkennbare Gefahren zu beraten - verneint man hier die Anwendbarkeit der Regeln der Befunderhebungsfehler bei Vorliegen genetischer (nicht behandelbarer) Defekte, so wird der Arzt aber (haftungsrechtlich) gerade der Pflicht zu eben dieser Beratung der Mutter enthoben. Und das Argument, man könne "ja (ärztlicherseits) eh nichts mehr machen" ist auch falsch. Zwar kann der Arzt keine Gendefekte des ungeborenen Kindes behandeln. Der Arzt kann aber, wenn eine Fruchtwasseruntersuchung einen Gendefekt bestätigt, auf Wunsch der Mutter und bei Vorliegen der sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen aber einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Und der medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbruch ist ein Heileingriff, sprich eine medizinische Behandlung. Und ob ein Schwangerschaftsabbruch medizinisch indiziert ist, kann der Arzt ohne die erforderliche Diagnostik (noch) nicht beurteilen.

Die Begründung des OLG Dresden ist auch in weiterer Hinsicht nicht überzeugend: Die Mutter wirft den behandelnden Ärzten vor, ihnen sei ein grober Befunderhebungsfehler durch Wahl falscher Referenzebenen bei dem Ersttrimesterscreening unterlaufen. Bei richtiger Befunderhebung hätte noch eine Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt werden können, die die Trisomie 13 gezeigt hätte. Ergeben erste Befunde oder die Anamnese den Verdacht auf das Vorliegen einer Erkrankung, hat der Arzt diesen Verdacht mit den hierfür üblichen Befunderhebungen abzuklären, also entweder zu erhärten oder auszuräumen, um DANN zu behandeln UND/ODER weiteren differential-diagnostisch in Betracht kommenden Möglichkeiten nachzugehen (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl. Rn. B 65). Selbst wenn man also mit dem OLG Dresden verlangte, dass bei richtiger Befunderhebung sich noch Bedarf für weitere medizinische "Behandlungen" hätte ergeben müssen, so wäre dieses Kriterium erfüllt. Denn die Fruchtwasseruntersuchung ist eine diagnostische (und von einem Arzt auszuführende) Maßnahme und damit eine Behandlung im weiteren Sinne.

Im Übrigen ist die Entscheidung widersinnig, weil das OLG Dresden dem Arzt (als "einzige Reaktion") abverlangt, den Eltern die Chancen und Risiken einer weiterführenden Fruchtwasseruntersuchung zu erläutern. Eben dies haben die beklagten Ärzte aber gerade nicht getan. Damit waren die Eltern doch gerade nicht in der Lage, wie vom OLG Dresden gefordert, "... das mit einer weiteren Diagnostik (gemeint ist damit die Fruchtwasseruntersuchung) verbundene Risikospektrum abzuschätzen und hieraus eine verantwortliche Entscheidung abzuleiten".

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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