28.4.2014 Je komplizierter der Fall, desto eher drängt das Gericht auf einen Vergleich. So jedenfalls meine Erfahrung in mehreren komplexen Zivilverfahren. Ein aktueller Fall weist noch weitere realsatirische Skurrilitäten auf.

Der Fall: Zwei Ärzte streiten wegen wegen einer sehr unschön verlaufenen Beendigung einer gemeinsamen Praxis. Der Senior warf den Junior schlicht raus, leitete seine Patienten auf sich um und behielt alle Behandlungsunterlagen ein. Der andere behielt dafür Entgelte ein. Schließlich klagte der Senior frech auf die einbehaltenen Entgelte, allerdings machte er diese als Einzelforderung geltend und nicht - wie der BGH es bei der Auseinandersetzung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts fordert (Stichwort Durchsetzungssperre) - mittels einer Auseinandersetzungsbilanz. Der Junior verlangte widerklagend Schadensersatz wegen des Verdienstausfalls und zwar annähernd in Höhe der Klageforderung.

Der Fall, bei dem ich den Junior vertrete, ist zugegebenermaßen komplex. Zum einen ist die Klageforderung schwer zu berechnen (jedenfalls ohne Bilanz). Zum anderen ist auch die Widerklageforderung nicht einfach zu berechnen, obgleich das Gesetz bei der Bestimmung eines Verdienstausfalles dem Richter diverse Beweiserleichterungen an die Hand gibt. Viele Zeugen sind zu vernehmen. Viele Unterlagen sind auszuwerten.

Was tut das Gericht? Erster Termin: Die Klageforderung wird mit dem Kläger durchgerechnet, rauf und runter. Nun solle doch bitte der Beklagte seine Berechnung vorlegen. Der Hinweis, dass es nicht Aufgabe des Beklagten ist, die Klageforderung schlüssig zu rechnen, wird übergangen. Allenfalls, so der Beklagte, könnte man das so berechnen, komme dann aber auf einen weit niedrigeren Betrag. Aha, so sei also der Betrag x von dem Beklagten quasi zugestanden, so das Gericht listig? Nein, das sei nicht zugestanden, weil der Beklagte die Zahlen, zu denen er keine Belege oder Unterlagen hat, nicht verifizieren kann, weshalb er die Zashlen auch mit Nichtwissen bestreitet. Das Gericht ist verstimmt. Nun kommt es mit einem Vergleichsvorschlag: Könne man nicht halbe-halbe von der Klageforderung machen? Eher nicht, so die Beteiligten. Nun kommt massiver Druck des Gerichts: Die Klage wird in groben Zügen madig geredet, andererseits werden die Einwendungen des Beklagten ohne ins Detail zu gehen klein gemacht. Und das alles ohne dass das Gericht über irgendeine der vielen streitigen Tatsachen Beweis erhoben oder auch nur ein Dokument dazu gelesen hätte (Bonmot dazu: Zwei Tage vor der Verhandlung rief ich den Richter an; er teilte mit, dass er mir zu dem Fall nichts sagen könne, da er die Akte "noch nicht gelesen hätte" - und das bei einer Akte die bereits zwei Daumen dick war!). Verhandlungsunterbrechung auf Anraten des Gerichts. Die Parteien kommen auf dem Flur nicht zusammen. Zurück im Saal weiter Druck des Gerichts. Wieder Unterbrechung auf Anraten des Gerichts. Wieder kommt man auf dem Flur nicht zusammen. Der Richter kommt mit raus und betreibt Pendeldiplomatie. Zurück im Saal geht es so weiter. Schließlich wird es dem Gericht (leider eine Einzelrichtersache) zu bunt. Es bestimmt, einen Verkünder zu erlassen. Der kommt Monate später: Es wird ein Verkünder in einigen Monaten angekündigt! Der Richter verläßt dann das Dezernat und überläßt den Fall seinem Nachfolger. Der tut - nichts. Und geht in den Mutterschutz.

Der nächste Richter verhandelt die nun vier Daumen dicke Sache. Zuerst rechnet er mit dem Kläger die Klageforderung durch. Was denn der Beklagte zu den Zahlen meine? Ob man sich nicht vergleichen wolle? Eher nicht. Zeugen vernehmen? Hinweise geben? Fehlanzeige. Auch diese Verhandlung endet ohne jedes Ergebnis. Auch dieser Richter verläßt das Dezernat einige Zeit später. 

Nun aber haben wir einen neuen Richter! Er erlässt einen Hinweis. Er stellt einen Fahrplan auf und will sogar - Jubel! - Zeugen vernehmen. Schön, dass nach nunmehr über vier Jahren das Thema Zeugen auf den Tisch kommt.

Im Termin wird der einzige geladene Zeuge vor die Tür geschickt - und kommt nicht wieder. Denn es wird ersteinmal ausgiebig gerechnet. Da der Beklagte ja eine eigene Berechnung der Klageforderung vorgelegt habe (wenn auch mit dem Hinweis "allenfalls" und zur Aufdeckung diverser Rechenfehler des Klägers) habe ja der Beklagte zumindest den Betrag x zugestanden, nicht wahr? Danach wird über das Thema Vergleich gesprochen. Ob man nicht halbe-halbe zwischen Klageforderung und Betrag x machen wolle? Gut, ich hatte vorab ausdrücklich geschrieben, dass der Beklagte keine Vergleichsbereitschaft mehr habe und eine Entscheidung wünscht - aber möglicherweise hat der Richter das ja überlesen. Die Akte ist ja auch schon anderthalb Leitzordner dick, da kann das schon mal passieren. Durchsetzungssperre? Nein, das sei keine GbR sondern eine Art von Pachtverhältnis, da brauche man keine Auseinandersetzungsbilanz, so der Richter (der übrigens aus einem Strafdezernat kommt). Über die Widerklage wird nicht gesprochen. Warum auch?

Wieder werden die Parteien auf den Flur entlassen. Wieder kommt man nicht zusammen. Zivilrechtliche Hinweise werden nicht gegeben. Dafür droht der Richter dem Kläger strafrechtliche Konsequenzen an, falls sich das, was der Beklagte vorträgt (Stichwort: Patienten und Akten gestohlen) bewahrheiten sollte. Auch das kann aber den Kläger nicht zum Einlenken bewegen. Der Richter protokolliert nur das Mindeste. Man geht ohne jedes Ergebnis auseinander.

In Kürze kommt der nächste Termin, zu dem der erste Zeuge erneut geladen ist (und keine weiteren). Der Richter teilt im informellen Gespräch mit, dass er noch einmal "alles durchrechnen" wolle und erst dann den Zeugen vernehmen. "Falls nötig." 

Der Mandant ist allmählich weich gekocht, will aber zumindest "seine" Zeugen der Widerklage vernommen haben, bevor er das Wort "Vergleich" noch einmal in den Mund nimmt. Es entsteht der Eindruck, dass das Gericht keine Lust hat, den Fall mit einem zwanzigseitigen Urteil zu entscheiden.

In einem ähnlichen Fall (aber ohne Widerklage) kam es nach vier Verhandlungsterminen und unendlichen Vergleichsbitten des Gerichts schließlich zu so einem Urteil. Der Kläger erhielt Recht.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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