(27.9.2019) In völliger Abkehr von den Grundsätzen des Bundessozialgerichts wagt das LSG NRW eine kleine Revolution und erlaubt es den Zulassungsgremien der Kassenärztlichen Vereinigungen, bei der Auswahlenetscheidung zur Nachbesetzung auch dann auf das Approbationsalter und die Dauer der ärztlichen Tätigkeit seit Approbation abzustellen - und damit auf die berufliche Erfahrung der Bewerber - wenn beide Bewerber schon länger als fünf Jahre als Arzt tätig sind. Die Entscheidung, bei der es um eine eilige Rechtsschutzsache ging, ist rechtskräftig, deshalb kann das BSG nicht widersprechen (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluß vom 24.06.2019 - L 11 KA 62/18 B ER). 

wer ist besser geeignet im Sinne des Nachbesetzungsverfahrens

Die Vorgeschichte:

Auf Ausschreibung des Vertragsarztsitzes eines Facharztes für Innere Medizin/Gastroenterologie, der mit seiner Ehefrau, einer Ärztin für Allgemeinmedizin, eine Vertragsarztpraxis in BAG betreibt, ließ der Zulassungsausschuss den Arzt X zu, den Wunschkandidaten des abgebenden Arztes und seiner Ehefrau.

Das passte der unterlegenen Mitbewerberin nicht, die deshalb Rechstmittel einlegte. 

Um den aufscheibenden Wirkung dieses Widerspruches aufzuheben beantragte der Wunschkandidat, dass der Beschluß des Zulassungsgremiums für sofort vollziehbar erklärt wird.

Das SG Düsseldorf (Beschl. v. 25.07.2018 - S 14 KA 64/18 ER) ordnete die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsgremiums an.

Dagegen legte die unterlegene Bewerberin, die tatsächlich schon länger approbiert ist als der Wunschkandidat, Beschwerde ein.

Die Entscheidung:

Nun hat das LSG die Beschwerde der unterlegenen Bewerberin zurückgewiesen.

Das LSG NRW hat der unterlegenen Bewerberin insofern Recht gegeben, als es doch auf deren laängere berufliche Tätigkeit ankomme: 

"Objektiv sprechen jedenfalls das höhere Lebensalter, die längere Berufserfahrung, die jahrelange Tätigkeit in eigener Privatpraxis sowie die Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren eher dafür, die Beigeladene zu 9) auszuwählen. Zufolge der Rechtsprechung des BSG sind Approbationsalter und Dauer der ärztlichen Tätigkeit bei der Auswahl des Praxisnachfolgers allerdings nur bis zu einer Grenze von etwa fünf Jahren zu berücksichtigen (so BSG, Urteil vom 11.12.2013 - B 6 KA 49/12 R - unter Bezugnahme auf Urteil vom 08.12.2010 - B 6 KA 36/09 R -). Das BSG begründet diesen Ansatz im Urteil vom 08.12.2010 - B 6 KA 36/09 R - in einem obiter dictum wie folgt:

"Dazu ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass die Kriterien Approbationsalter und Dauer der ärztlichen Tätigkeit darauf abzielen, einen gewissen Erfahrungsstand und den dadurch erworbenen Standard zu berücksichtigen; dieser dürfte in den meisten ärztlichen Bereichen nach ca fünf Jahren in vollem Ausmaß erreicht sein, sodass das darüber hinausgehende höhere Alter eines Bewerbers und eine noch längere ärztliche Tätigkeit keinen zusätzlichen Vorzug mehr begründen."

Diese Behauptungen sind weder empirisch belegt noch sonst valide. Sie widersprechen auch den gesetzlichen Vorgaben. Der Katalog des § 103 Abs. 4 Satz 5 Nrn. 1 ff. SGB V enthält eine solche Restriktion nicht. Im Übrigen führt dieser rechtlich bedenkliche Ansatz dazu, dass die in § 103 Abs. 4 Satz 5 Nrn. 1 bis 3 ff. SGB V verorteten Kriterien weithin obsolet werden, nämlich immer dann, wenn die Bewerber die vom BSG generierte Frist überschreiten. Ausgehend vom eindeutigen Normtext sprechen daher das Approbationsalter und die Dauer der ärztlichen Tätigkeit für die Beigeladene zu 9). Hinsichtlich der "beruflichen Eignung" scheint sie einen Vorsprung insoweit zu haben, als sie die Zusatzweiterbildung Naturheilverfahren hat. Insoweit wäre zu prüfen, ob und inwieweit dieser Umstand mit Blick auf Ausrichtung, Struktur und Patientenklientel der Praxis, in die im Wege der Nachfolge eingetreten werden soll, ein Qualifikationskriterium ist. Der Antragsgegner hat sich dazu nicht geäußert."

Im weiteren stellt das LSG noch einmal klar, dass ein Bewerber, der mit dem zu erwerbenden Zulassung in eine BAG eintreten möchte, nicht den Zuschlag erhalten kann, wenn die verbleibenden BAG-Praxispartner - sprich seine künftigen Kollegen - ihn nicht wollen und stattdessen einen anderen Bewerber bevorzugen, vgl. § 103 Abs. 6 SGB V., Das war aber schon vorher herrschende Meinung in der Rechtsprechung. Deshalb hat die unterlegene Bewerberin letztlich dann doch nicht vom LSG die erhoffte Entscheidung erhalten sondern wurde einstweilig abgewiesen. 

Praxisanmerkung:

Dass diese Entscheidung nur im einstweiligen Rechtsschutz ergangen ist, schmälert seine Wirkkraft. Es wird  noch eine Entscheidung im Hauoptsacheverfahren geben. Das BSG wird sich gleichwohl nicht über die freche und mutige Entscheidung freuen. Der Handschuh liegt im Ring und es bleibt abzuwarten, ob andere Landessozialgerichte diese Idee aufgreifen und schließlich das BSG auch noch einmal über diese Fragestellung entscheiden kann. 

Das würde eine spannende Entscheidung werden. Denn tatsächlich haben die Zulassungsausschüsse bei einer Abwägung zwischen zwei Bewerbern, die beide schon mehr als fünf Jahre ärztlich tätig sein, nicht viel in der Hand, womit sie sich zwischen beiden entscheiden können. Und im Kern soll ja nach dem Willen des Gesetzgebers derjenige Arzt den Zuschlag bei der Nachbesetzung erhalten, der am besten (fachlich) geeignet ist, die Patienten zu versorgen (vgl. § 103 Abs. 4 Satz 4 Ziffern Nr. 2 und Nr. 3 SGB V). 

Andererseits könnte das LSG NRW den Zulassungsausschüssen und den Sozialgerichten auch einen Bärendienst erwiesen haben: Wenn es nun doch auf die "medizinische Erfahrung" ankäme, könnten zeitraubende Diskussionen und Abwägungen auf die Beteiligten zukommen - wer ist in welchem Bereich weshalb besser qualifiziert, wer hat mehr Fortbildungen absolviert, wer hat mehr Patienten behandelt, wer hat als Oberarzt gearbeitet, wer nur als Assistenzarzt etc?

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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