(24.7.2020) Ein Vertragsarzt kann nach vorheriger langjähriger Tätigkeit durch Eintritt in ein neu gegründetes MVZ nicht wieder zum „Wachstumsarzt“ werden, also nicht das sog. "Jungpraxenprivileg" für sich in Anspruch nehmen. Diese Rechtsprechung ist auch für den umgekehrten Fall anzuwenden, dass ein Arzt ein MVZ verlässt und in räumlicher Nähe eine eigene Praxis gründet - auch in diesem Fall kann der Arzt das "Jungpraxenprivileg" nicht beanspruchen (Sozialgericht Marburg, Gerichtsbescheid vom 5. Februar 2020 – S 12 KA 39/17).
Der Fall:
Die klagende Ärztin (Internistin) begehrt von der KV eine Sonderregelung zum Regelleistungsvolumen (RLV) als sog. junge Praxis ("Jungpraxenprivileg/Anfängerpraxis" bzw. "Praxis im Aufbau").
Ihre Stelle als angestellte Ärztin in dem MVZ wurde dann nach § 95 Abs. 9b SGB V in eine eigene Zulassung umgewandelt. Das von der Ärztin im MVZ betreute Fachgebiet war nach ihrem Ausscheiden nicht mehr in dem MVZ vertreten. Die Klägerin war von 2010 bis Anfang 2015 in dem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) C. in A-Stadt als hausärztlich tätige Internistin angestellt gewesen.
Seit dem 01.04.2015 ist sie als Fachärztin für Innere Medizin zur vertragsärztlichen Versorgung mit Praxissitz in A-Stadt zugelassen.
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 24.03.2015 und 16.06.2016 fürt ihre neue Praxis eine Einstufung als „junge Praxis“ ab dem 01.04.2015 für die nächsten vier Quartale. Begründung: Sie sei im Rahmen ihrer Angestelltentätigkeit in dem MVZ durch die geringeren Plausibilitätszeiten und die Fallpauschalen in erheblichem Maße gebunden gewesen. Sie sei in dem MVZ zeitweise nur einer Teilzeitbeschäftigung nachgegangen. Im Quartal II/15 seien ihr ca. 364 Fälle zugewiesen worden, sie habe aber bereits Anfang Juni in der neuen Praxis über 500 Fälle behandelt. Auch entstünden durch die Gründung einer Einzelpraxis und einer damit einhergehenden selbständigen Tätigkeit höhere laufende Kosten, während in dem MVZ beispielsweise durch die Personalzusammenlegung Kostenersparnisse möglich seien.
Die KV wies diesen Antrag zurück. Auch der Widerspruch der Ärztin wurde zurückgewiesen.
Die Entscheidung:
Das Sozialgericht wies die anschließende Klage der Internistin als unbegründet ab. Die Klägerin könne sich nicht auf die Jungpraxenprivileg berufen.
Das Jungpraxenprivileg bedeutet Folgendes: Grundsätzlich wird für Ärzte, die im Aufsatzzeitraum noch nicht niedergelassen waren, das arztgruppendurchschnittliche Regelleistungsvolumen für das jeweilige Quartal zugrunde gelegt. Soweit diese Ärzte eine Praxis übernommen (die "Jungpraxis") haben, werden stattdessen ausnahmsweise die (in der Regel gegenüber dem arztgruppendurchschnittliche Regelleistungsvolumen höheren) Fallzahlen des Vorgängers zugrunde gelegt, soweit dies die für den Vertragsarzt günstigere Regelung darstellt.
Ein Vertragsarzt könne aber, so das SG Marburg, nach langjähriger Tätigkeit durch Eintritt in ein neu gegründetes MVZ nicht wieder zum „Wachstumsarzt“ werden, also nicht das sog. "Jungpraxenprivileg" für sich in Anspruch nehmen. Diese Rechtsprechung sei auch für den umgekehrten Fall anzuwenden, dass ein Arzt ein MVZ verlässt und in räumlicher Nähe eine eigene Praxis gründet. Dies gelte jedenfalls dann, wenn im MVZ - wie hier - das vom Arzt betreute Fachgebiet nach seinem Ausscheiden nicht mehr vertreten ist. Denn auch wenn durch die Umwandlung der Anstellung in eine durch Nachbesetzung übertragbare Zulassung die Stelle aus dem Verbund des MVZ herausgelöst und in eine freie Praxis überführt wird, gehe es bei der Umwandlung aber auch um die Verlagerung des vom angestellten Arzt erfüllten Versorgungsauftrags in den Bereich eines zugelassenen Vertragsarztes.
Die Klägerin war aber, so das Gericht weiter, seit Jahren als internistische Onkologin im MVZ angestellt. Im Aufsatzquartal hatte sie bereits ihre vormalige Teilzeittätigkeit auf eine Vollzeittätigkeit aufgestockt. Von daher hat die Beklagte zu Recht die Bewilligung einer Sonderregelung als sog. Jungpraxis abgelehnt und daher waren die angefochtenen Honorarbescheide nicht zu beanstanden.
Praxisanmerkung:
Wer aus einem MVZ ausscheidet und die Zulassung des MVZ in eine eigene umwandelt, kann das Jungpraxenprivileg also nur nutzen, wenn das vom Arzt betreute Fachgebiet nach seinem Ausscheiden weiter in dem MVZ betreut wird. Dies sollte bei einer solchen Umwandlung beachtet werden.
Auch wenn ein Arzt aus einer Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) austritt und sich selbst niederläßt, stellt seine neue Praxis keine Jungpraxis dar (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 8. Juli 2015 – L 12 KA 64/14). Eine Jungpraxis setzt also die Erstzulassung des Vertragsarztes bzw. eine Neuzulassung in einem anderen Planungsbereich voraus.