(21.9.2020) Weil der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt der GOP 03111 EBM etc. (Versichertenpauschale) keinen festen Zeitrahmen hat, kann das Honorar eines Hausarztes, der eine sehr große Zahl von Versichertenpauschalen im Quartal abrechnet, nicht wegen vermeintlicher Implausibilität (zu hohe Leistungsmenge) gekürzt werden (Sozialgericht Berlin, Urteil vom 29. Juli 2020 – S 83 KA 101/18). 

Zur Abrechnung der VersichertenpauschaleDer Fall: 

Der Kläger nimmt seit 1978 als Facharzt für Allgemeinmedizin an der vertragsärztlichen Versorgung teil. In den streitgegenständlichen Quartalen (2012 - 2015) verfügte er über kein Praxispersonal. Die Patienten konnten bei ihm ohne vorherige Vereinbarung eines Termins vorbeikommen. Seine Praxis hatte der Kläger dahingehend organisiert, dass die Patienten teilweise auch im Flur warteten und dann in der Reihe ihres Erscheinens vom Kläger behandelt wurden. Dabei saß der Kläger teilweise direkt am Anmeldetresen, wo er auch mit den Patienten sprach. Der Schwerpunkt der Tätigkeit des Klägers lag in den Tagen mit vielen Patienten insbesondere in der Feststellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgrund von Diagnosen wie z.B. Erkältungsschnupfen oder Übelkeit. Er behandelte so pro Tag teilweise über 100 Patienten.

Die KV Berlin berechnete, dass die vom Hausarzt abgerechneten Leistungen (Versichertenpauschalen) zu einer Gesamtarbeitszeiten führe, die über der Quartalsgrenze lägen (46.800 Minuten je Quartal). Das sei auffällig. Die KV gab dem Arzt Gelegenheit zur Stellungnahme.

Der Arzt erklärte, er behandle ja auch Samstags.

Das überzeugte die KV nicht: Seine Abrechnung sei implausibel. Wenn der Arzt tatsächlich so viele Patienten pro Tag gesehen hätte, hätten ihm ja pro Patient gerade einmal fünf Minuten zur Verfügung gestanden. Das reiche nicht aus, um diese Ziffer zu erfüllen. Die KV Berlin kürzte deshalb das Honorar des Hausarztes um rund 300.000 €. 

Dagegen klagte der Hausarzt.

Die Entscheidung:

Das Sozialgericht gab dem Hausarzt Recht und hob die Regressbescheide der KV Berlin weitgehend auf.

Zur Begründung führt das Sozialgericht aus:

Vorliegend ergeben sich die hohen Quartalsprofilzeiten des Klägers insbesondere aus der Abrechnung der Versichertenpauschalen (bis Quartal III/2013 GOP 03110, 03111 und 03112 EBM; ab IV/2014 GOP 03000 EBM). Diese sehen jedoch keine Kalkulationszeiten vor, so dass der vom BSG dargestellte Prüfungsmaßstab zur Plausibiltät von Leistungen nicht greifen kann. Zudem sind nach Auffassung des Gerichts bei der Plausibilitätsprüfung auch die Besonderheiten quartalsbezogener Pauschalen zu beachten. Wie die Beklagte (KV Berlin) zutreffend ausführt, sind in die Kalkulation der Versichertenpauschalen diverse Leistungen einbezogen worden, die die Ärzte früher gesondert abrechnen konnten. Diese von der Versichertenpauschale umfassten Leistungen müssen jedoch nicht alle gleich zum Zeitpunkt der Abrechnung erbracht werden. Sie sind – bis auf den erforderliche Arzt-Patienten-Kontakt – keine Abrechnungsvoraussetzung. Dies bedeutet wiederum, dass es auch denkbar ist, dass sie überhaupt nicht erbracht werden. Zum einen hat dies zur Folge, dass die Prüfzeiten für die Versichertenpauschalen nicht für die Tagesprofile herangezogen werden können. Zum anderen bedeutet dies jedoch auch, dass nicht jeder Abrechnung der Versichertenpauschale der gleiche Umfang der Leistungserbringung zugrunde liegt. Während für die Versichertenpauschale GOP 03111 EBM (Versicherte ab 6 bis 59. Lebensjahr, EBM alte Fassung) eine Prüfzeit: 20 Minuten veranschlagt wurde, liegt diese für die aktuell gültige GOP 03300 EBM (für die hier streitgegenständlichen Quartale IV/2014 bis III/2015) hinsichtlich der Versicherten vom 5. bis 18. Lebensjahr bei 14 Minuten und hinsichtlich der Versicherten vom 19. bis 54. Lebensjahr bei 11 Minuten. Die Absenkung der Punkte und der Prüfzeiten für die Versichertenpauschale lässt sich u.a. durch die Einführung der sog. hausärztlichen „Vorhaltepauschale“ und der hausärztlichen Gesprächsleistung erklären. Dies macht aber auch deutlich, dass es für die einzige obligate Leistungsvoraussetzung (der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt) keinen festen Zeitrahmen geben kann. Selbst wenn die Prüfzeiten die Zeiten berücksichtigen, die von erfahrenen und zügig arbeitenden Ärzten für eine ordnungsgemäße Leistungserbringung benötigt werden, ist davon nicht der Fall umfasst, dass ein Arzt tatsächlich nur das absolut Notwendige (Arzt-Patienten-Kontakt) für die Abrechnung der Versichertenpauschale erbringt. Nach Auffassung der Kammer stoßen die Quartalsprofilzeiten hinsichtlich der quartalsbezogenen Pauschalen, die derartig viele fakultative Leistungen umfassen, als Indiz für eine Falschabrechnung an ihre Grenzen.

Voraussetzung sowohl der „alten“ Versichertenpauschale nach den GOP 03110, 03111 und 03112 EBM als auch der ab dem streitgegenständlichen Quartal IV/2014 geltenden Versichertenpauschale nach der GOP 03000 EBM ist ein persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt. Eine nähere Erläuterung hinsichtlich des Arzt-Patienten-Kontakts enthalten die Allgemeinen Bestimmungen des EBM unter Ziffer 4.3.1: „Ein persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt setzt die räumliche und zeitgleiche Anwesenheit von Arzt und Patient und die direkte Interaktion derselben voraus.“ Ein solcher war auch bei der vom Kläger gewählten Form der Praxisführung gegeben.

Nach den Vorgaben des EBM muss es zur Erfüllung der Versichertenpauschale zudem zu einer „direkten Interaktion“ zwischen Arzt und Patient gekommen sein. Diese Interaktion kann sich wiederum nicht auf eine bloße Begrüßung und das Durchziehen der Versichertenkarte beschränken. Vielmehr muss auch ein kuratives Tätigwerden durch den Arzt vorliegen. Die Durchsicht der beispielhaft vorgelegten Patientenakten zeigt, dass der Kläger überwiegend Krankschreibungen vorgenommen hat. Dabei sind auffallend oft die Diagnosen J00 (Akute Rhinopharyngitis [Erkältungsschnupfen]), R51 (Kopfschmerz), R11 (Übelkeit und Erbrechen) und K29.1 (Meläna) dokumentiert, aufgrund derer der Kläger Arbeitsunfähigkeit (oder Befreiungen für den Schulunterricht) für relativ kurze Zeiträume festgestellt hat. Die Kammer geht nicht davon aus, dass sich der Kläger die Diagnosen ausgedacht hat. Vielmehr hat er von diesen durch eine kurze Befragung der Patienten Kenntnis erlangt. Diese Befragung des Patienten sowie die daran geknüpfte Einschätzung, ob eine Arbeitsunfähigkeit gegeben ist, kann innerhalb weniger Minuten erfolgen.

Die vom Kläger gewählte Form der Praxisorganisation, in der die Patienten teilweise – wie es die Beklagte formuliert – eine „Krankschreibung am Anmeldetresen“ erhielten, mag nicht der klassischen Hausarztpraxis entsprechen. Die Abrechnung der Versichertenpauschale wird durch diese Art der Praxisführung jedoch nicht ausgeschlossen.

Dagegen hat die Beklagte hinsichtlich der in den Quartalen IV/2014 bis III/2015 abgerechneten Chroniker-Ziffern (H) zu Recht die fehlenden Arzt-Patienten-Kontakte beanstandet. Ein Vertragsarzt kann nicht mit Erfolg geltend machen, der Hausarztwechsel sei durch die Kennzeichnung der GOP mit einem „H“ dokumentiert. Die Kennzeichnung mit dem „H“ stellt lediglich den Nachweis der erfolgten Dokumentation dar, ersetzt diese jedoch nicht. Dies führte im Ergebnis zu einer kleineren Kürzung der dem Hausarzt gezahlten Honorare. 

Das Gericht gewährte dem Hausarzt auch Ersatz seiner vorgerichtlichen Anwaltskosten: 

Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes durch den Kläger im Vorverfahren war notwendig. Ein Vertragsarzt darf immer dann anwaltliche Hilfe als notwendig erachten, wenn seine eigenen Hinweise auf offensichtliche Fehler der KV, Klarstellungen zum Abrechnungsverhalten oder rein medizinische Erläuterungen zum Behandlungsumfang aus seiner Sicht nicht ausreichen, um das Widerspruchsverfahren mit Aussicht auf Erfolg durchzuführen, und dem Verfahren zumindest eine nicht unerhebliche wirtschaftliche Bedeutung zukommt. Hinsichtlich der Verfahren der sachlich-rechnerischen Richtigstellung hat das BSG deutlich gemacht, dass die Auslegung der Leistungslegenden der Gebührenordnungen, Regelungen über wechselseitige Ausschlüsse bei verschiedenen Leistungspositionen und die Voraussetzungen von zulässigen Parallelabrechnungen in der Regel auch rechtliche Fragen aufwerfen, zu deren Klärung anwaltliche Hilfe nicht zuletzt auch zur Wahrung der "Waffengleichheit" gegenüber der KV, für die im Widerspruchsverfahren zumindest häufig Juristen tätig werden, angezeigt ist. Dies ist nach Auffassung der Kammer auch vorliegend ersichtlich der Fall gewesen. Dem Verfahren kommt auch eine nicht unerhebliche wirtschaftliche Bedeutung zu.

Praxisanmerkung:

Viele Patienten wollen nur eine schnelle Krankschreibung. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder Befreiungen für den Schulunterricht. Auf eben diese Leistungen hat sich der Hausarzt spezialisiert. Das ist aus gerichtlicher Sicht nicht als implausibel zu beanstanden.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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