(9.11.2020) Ist ein weiteres Abwarten für die Gesundheit des Kindes kritisch, so ist die Unterstützung der Klägerin zur zügigen Beendigung der Geburt mittels Unterarm-Fundus-Druck eindeutig indiziert und damit nicht behandlungsfehlerhaft. Da in der fortgeschrittenen Entbindungssituation ein Kaiserschnitt wegen der damit verbundenen erheblichen Risiken kontraindiziert und eine Saugglockenbehandlung ebenfalls risikoreich war, musste der Arzt die Mutter auch nicht über diese Behandlungsmöglichkeiten aufklären (LG Hannover, Urteil vom 21. Januar 2019 – 2 O 190/17).
Der Fall:
Die damals 35jährige schwangere Klägerin begab sich nach Blasensprung (und fünf Tage vor dem errechneten Geburtstermin) morgens um 2 Uhr die Klinik der Beklagten.
Das CTG zeigte Normalbefund. Ab 3:30 Uhr nahm die Wehentätigkeit zu, sie erhielt Schmerzzäpfchen, um 4:45 Uhr eine Periduralanästhesie und ab 9.45 Uhr einen wehenfördernden Oxytocin-Tropf. Um 10 Uhr war der Muttermund vollständig geöffnet und der Kopf des Kindes lag tief und fest im Beckeneingang. Kurz vor zwölf Uhr schnitt der Kopf leicht ein, das CTG zeigte Abfälle der Herzfrequenz des Kindes. Der Klägerin fehlte die alleinige Kraft und das CT zeigte eine beginnende Beeinträchtigung des Gausaustausches zwischen Mutter und Kind.
Um 12:12 Uhr trat eine Ärztin hinzu und die Klägerin presste ab 12:17 Uhr in Rückenlage. Es begann ein aktives Mitpressen mit Unterarm-Fundus-Druck. Um 12:25 Uhr, nach drei Presswehen wurde erneut der Unterarm-Fundus-Druck eingesetzt. Daraufhin gebar die Klägerin ein gesundes Mädchen, dessen postpartaler fetaler Nabelschnur-pH 7,14 betrug.
Die Klägerin litt nach der Geburt aber an Schmerzen im Steiß und erhielt Schmerzmittel.
Es entwickelte sich ein dauerhafter Steißbeinschmerz bei der Klägerin.
Mit ihrer auf Zahlung eines Schmerzensgeldes gerichteten Klage warf sie den Behandlern vor, der Kristeller-Eingriff sei nicht indiziert gewesen und fehlerhaft ausgeführt worden. Der Kristeller-Eingriff sei auch nicht mehr zeitgemäß und habe zu ihren dauerhaften Beschwerden geführt. Zudem sei sie nicht über die Alternativen (Kaiserschnitt oder Einsatz einer Saugglocke) aufgeklärt worden.
Die Entscheidung:
Das Landgericht zog einen medizinischen Sachverständigen hinzu und wies die Klage der Mutter auf Schmerzensgeld als unbegründet ab.
Die Anwendung des Unterarm-Fundus-Druckes sei angesichts des CTG-Befundes sach- und fachgerecht ausgeführt worden. Wegen des pathologischen CTG-Befundes und des seit zwei Stunden vollständig geöffneten Muttermundes sowie des nach der Geburt festgestellten pH-Wertes von nur 7,14 sei ein weiteres Abwarten sowohl aus der Ex-ante- als auch aus der Ex-post-Perspektive für die Gesundheit des Kindes kritisch, die Unterstützung der Klägerin zur zügigen Beendigung der Geburt sei eindeutig indiziert gewesen.
Es sei auch nicht richtig, so der Sachverständige, dass der Unterarm-Fundus-Druck bzw. Kristeller-Hilfe in der gynäkologischen Medizin nicht mehr vertretbar sei. Vielmehr sei diese Methode trotz der bestehenden Diskussionen um seine Anwendung im Vergleich zu den sehr viel risikoreicheren sogenannten vaginaloperativen Entbindungen wie der Saugglocke und dem Kaiserschnitt in der weltweiten Geburtshilfe alternativlos und käme in allen ihm persönlich bekannten Geburtskliniken regelmäßig zur Anwendung.
Gegen keine der gängigen Varianten der Kristeller-Hilfe sei aus medizinischer Sicht etwas zu erinnern, so der Sachverständige. Der Sachverständige sah auch keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Methode fehlerhaft ausgeführt wurde oder zu typischen Beschwerden bei Kind oder Mutter geführt habe. Die von der Mutter geklagten Steißbeinbeschwerden seien vielmehr eine gewöhnliche Komplikation einer Geburt.
Der Sachverständige verneinte auch eine unterlassene Aufklärung über Behandlungsalternativen, weil ein Kaiserschnitt zu dem Zeitpunkt, als bei der Klägerin ein aktives Geburtsmanagement notwendig wurde, zwar noch grundsätzlich möglich gewesen sei, aufgrund des vorangeschrittenen Geburtsvorganges im Hinblick auf die damit verbundenen erheblichen Risiken für Mutter und Kind aber behandlungsfehlerhaft gewesen wäre. Mit dem Einsatz einer Saugglocke wären ebenfalls erhebliche Risiken für das kindliche Gehirn einhergegangen, zumal auch der Einsatz einer Saugglocke nicht ohne "Druck von oben" auskomme, mithin ebenfalls zum Einsatz einer - in welcher Form auch immer - "Kristeller-Hilfe" geführt hätte.
Da sich das Gericht den Ausführungen des Sachverständigen anschloß, wies es die Klage ab.
Praxisanmerkung:
Die Geburt wurde umfassend dokumentiert. Daraus konnte der Geburtsverlauf und die sich daraus entwickelnde kritische Lage für das Kind vom Gericht gut nachvollzogen werden. So konnte die Behandlerseite nachweisen, dass ihr Vorgehen indiziert und fachgerecht war. Einmal mehr belegt dieser Fall die eminente Wichtigkeit einer zeitnahen und umfassenden Dokumentation, gerade in der besonders schadenträchtigen Geburtshilfe.
Die Kristeller-Hilfe (auch Kristeller-Handgriff genannt) wird in Teilen der Medizin, u.a. von der WHO, wegen vermeintlicher Risiken für Mutter und Kind kritisch gesehen. Aus Sicht des Sachverständigen gehört der Eingriff dagegen zum üblichen Handwerkszeug in der Geburtshilfe. Sicherheitshalber sollte der Eingriff aber nur in kritischen Geburtssituationen angewendet werden.