Medikamentenregress gegen Arzt - Praxisbesonderheiten(3.12.2020) Bietet ein Arzt erstmals in der letzten mündlichen Verhandlung im Verwaltungsverfahren Informationen zu entlastenden Umständen an (und zwar zum Vorliegen von Praxisbesonderheiten), so darf der Beschwerdeausschuss hierüber nicht unkommentiert hinweggehen und ohne Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten gegen den Arzt entscheiden (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17. Juni 2020 – L 7 KA 19/16).

Der Fall:

Im Streit stand hier die Rückforderung von Kosten für verordnete Medikamente von mehreren Hunderttausend Euro.

Verordnet ein Arzt Medikamente an seine Patienten, so bezahlen die Krankenkassen diese Medikamente. Durfte der Arzt diese Medikemente aber nicht verordnen, z.B. weil sie für diese Behandlung nicht zugelassen sind, so muss der Arzt die Medikamentenkosten zurückzahlen. Er muss dann also eine Strafe dafür zahlen, dass er die Kassen mit unnötigen Kosten belastet hat. Da kommen schnell riesige Rückforderungen zusammen.

Ob der Arzt die Medikamente verordnen durfte (Wirtschaftlichkeitsprüfung), stellt die Prüfungsstelle fest (diese wird von den Landesverbänden der Krankenkassen und Ersatzkassen sowie die Kassenärztlichen Vereinigungen gebildet). Die Prüfungsstelle bereitet die erforderlichen Daten und Unterlagen auf, beurteilt sie und entscheidet, ob die Verordnungen rechtmäßig waren. Dabei muss die Prüfungsstelle auch berücksichtigen, ob atypische Umstände vorliegen, die den höheren Behandlungsaufwand rechtfertigen - zu diesen atypischen Umständen gehören Praxisbesonderheiten und kompensierende Einsparungen. Praxisbesonderheiten sind zum Beispiel, dass ein Arzt besondere Patientengruppen behandelt, deren Behandlung außergewöhnlich kostenintensiv ist. 

Gegen die Entscheidungen der Prüfungsstelle können alle Beteiligte, also beispielsweise Ärzte, Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen, den Beschwerdeausschuss anrufen. Der Beschwerdeausschuss besteht aus Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen in gleicher Zahl sowie einem unparteiischen Vorsitzenden. Auch der Beschwerdeausschuss muss Praxisbesonderheiten berücksichtigen.

Im vorliegenden Fall hat der betroffene Arzt (ein Neurologe aus Berlin) überwiegend Patienten mit Multipler Sklerose behandelt und dabei nicht zugelassene (und teure) Immunglobuline als Medikament verschrieben, die der Arzt als notwendig ansah, um seine schwerkranken Patienten zu behandeln. Deswegen hatte er schon mehrfach Streit mit der Prüfungsstelle und die Prüfungsstelle verlangte Rückzahlung von mehreren Hunderttausend Euro Medikamentenkosten von dem Arzt.

In dem langwierigen Verfahren vor der Prüfungsstelle trug der Arzt aber keine Praxisbesonderheiten zu seiner Entlastung und Verteidigung vor. Nachdem die Prüfungstelle einen Regress festsetzte, legte der Arzt Widerspruch ein, so dass der Beschwerdeausschuss zu entscheiden hatte.

Auch in dem schriftlichen Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss trug der Arzt keine Praxisbesonderheiten vor. Erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Beschwerdeausschuss bot der Arzt an, zu Praxisbesonderheiten vorzutragen und bat um Vertagung der Entscheidung. Der Beschwerdeausschuss wollte aber nicht vertagen, wies den Widerspruch zurück und entschied, dass der Arzt über 300.000 EUR Medikementenkosten zurückzahlen muss.

Der Arzt zog vor Gericht.

Die Frage war nun, ob der Beschwerdeuasschuss entscheiden durfte, ohne Praxisbesonderheiten des Arztes geprüft zu haben. 

Die Entscheidung:

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg entschied nun, dass der Beschwerdeausschuss verpflichtet ist, die Praxisbesonderheiten zu ermitteln und dazu die Entscheidung vertagen muss. Um rechtsfehlerfrei zu sein, müsse der Beschluss des Beschwerdeausschusses zumindest Ermessenserwägungen erkennen lassen, aufgrund derer weiteres Vorbringen zum Sachverhalt nicht zugelassen und stattdessen in der Sache entschieden wurde. Das ergebe sich aus dem Untersuchungsgrundsatz der Prüfungsstelle und des Beschwerdeausschusses. In jedem Falle aber hätte der Beschwerdeausschuss gesondert schriftlich begründen müssen, warum er dem Arzt nach einem jahrelangem Verwaltungsverfahren keine Möglichkeit mehr zu weiterem Sachvortrag einräumt. Dies ahbe der Beschwerdausschuss aber nicht gatan, weshalb die Entscheidung ermessensfehlerhaft sei.

Das LSG hob daher die Entscheidung des Beschwerdeausschusses (und die dem folgende Entscheidung des SG Berlin) auf. Nun muss der Beschwerdeausschuss erneut entscheiden und zuvor die Praxisbesonderheiten im Einzelnen prüfen. Ein Teilerfiolg für den Arzt. 

Mit anderen Worten reicht es aus, wenn der Arzt Praxisbesonderheiten erstmalig "kurz vor Toresschluß" in der mündlichen Verhandlung vor dem Beschwerdeausschuss vorträgt. 

Praxisanmerkung:

Die Entscheidung ist völlig korrekt und nachvollziehbar. Es ist zwar äußerst unglücklich und sicherlich auch ungeschickt von dem Arzt, wenn er seine Verteidigung erst so spät vorträgt. Gleichwohl ist diese Verteidigung noch zu berücksichtigen.

Ärzten, die von einer Wirtschaftlichkeitsprüfung bzw. einem Arzneikostenregress betroffen sind oder denen ein Regress droht, sollten also Praxisbesonderheiten so früh wie möglich und so detailliert wie möglich vorbringen. Achtung: Trägt der Arzt diese Praxisbesonderheiten aber erst vor Gericht vor, so ist das zu spät und das Gericht berücksichtigt die Praxisbesonderheiten nicht mehr.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
Vertretung und Beratung im Medizinrecht und Arztrecht
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