MRT des Kopfes - Schlaganfall?(6.7.2022) Versorgt ein kleineres Krankenhaus Schlaganfallpatienten unter telemedizinischer Hinzuziehung von Fachleuten einer größeren Klinik, so ist eine engmaschigste Vernetzung erforderlich, um eine zeitnahe und fachkundige Versorgung dieser Patienten zu gewährleisten. Erforderlich sind detaillierte Regelungen, wer für was zuständig ist. Diese können beispielsweise in einer SOP (Standard-Operating-Procedure) niedergelegt werden. Werden diese Grundsätze verletzt und verzögert sich dadurch die Behandlung des Schlaganfallpatienten, so dass es zu Schäden des Patienten kommt, so haftet die Klinik aus einem Organisiationsverschulden, dies auch für Versäumnisse der größeren Klinik (Landgericht München II, Urteil vom 10. Mai 2022 – 1 O 4395/20 Hei). 

Der Fall: 

Die damals 47jährige Klägerin kollabierte am 01.02.2017 in ihrem Wohnzimmer. Ein Rettungswagen brachte sie in das Krankenhaus der beklagten Klinik, einem kleineren Haus (im weiteren: beklagte Klinik), wo sie um 18.49 Uhr eintraf. 

Die Ärzte der beklagten Klinik veranlassten um 19.26 Uhr eine CT-Untersuchung, die telemedizinisch an die Ärzte des größeren Zentralklinikums übersendet wurde, die die Befunde auswerteten und eine Diagnose erstellten.

Nachdem keine Besserung eintrat, wandte sich der Arzt der beklagten Klinik um 20.00 Uhr erneut an das Zentralklinikum und bat um eine Neubefundung in Form einer CT-Angiografie.

Um 21.45 Uhr teilten die Ärzte des Zentralklinikums den Ärzten der beklagten Klinik die Diagnose eines akuten ischämischen Mediainfarkts rechts mit.

Um 22.45 Uhr wurde die Klägerin mit dem Rettungswagen ins Klinikum ... verlegt, nachdem der Rettungshubschrauber um 22.01 Uhr mitgeteilt hatte, wegen schlechten Wetters nicht starten zu können.

Die Klägerin erlitt einen schweren Schlaganfall und ist jetzt schwerbehindert. 

Sie verlangte Schmerzensgeld von der beklagten Klinik. Diese habe die Diagnostik wie auch die notwendige Verlegung in ein anderes Krankenhaus schuldhaft verzögert. Bei rechtzeitiger Diagnostik und mechanischer Rekanalisation hätte der schwere Schlaganfall mit bleibender Behinderung verhindert werden können.

Die Entscheidung:

Das Landgericht München hörte einen Internisten als Sachverständigen an, der ebenfalls in einem telemedizinischem Netzwerk tätig ist, welches zu dem bei der Beklagten etablierten System vergleichbar ist.

Der Sachverständige war der Meinung, die Behandlung mittels CT-Angiografie sei um mindestens 80 Minuten verzögert worden. 

Das Gericht schloss sich dieser Einschätzung an und führte dazu aus:

Das Zentralklinikum hätte auch die Zeit zwischen (der nach ihrer Behauptung erstmaligen Kontaktaufnahme seitens der Beklagten um) 19.43 Uhr und 20.05 Uhr nicht hätte verstreichen lassen dürfen, bevor sie die angeforderte Auswertung der radiologischen Befunde übernimmt . Das Zentralklinikum hat im Übrigen angegeben, dass um 20.15 Uhr eine CT-Angiografie für notwendig erachtet wurde und dies der Beklagten auch mitgeteilt worden sei, diese habe jedoch erst um 21.01 Uhr begonnen. Mindestens 30 Minuten Verzögerung (geht man von einer Aufrüstzeit von 15 Minuten aus) hat also die Beklagte selbst zu verantworten. Soweit, wie vom Sachverständigen nachvollziehbar beanstandet, die Abläufe offensichtlich nicht klar geregelt waren, ist dies ein Organisationsversäumnis, das beide beteiligten Krankenhäuser zu verantworten haben. Die Schlaganfallbehandlung ist für alle Beteiligten komplex. Wenn man als kleines Krankenhaus Schlaganfallpatienten versorgt, ist eine engmaschigste Vernetzung erforderlich. Erforderlich sind detaillierte Regelungen, wer für was zuständig ist. Diese können beispielsweise in einer SOP (Standard-Operating-Procedure) niedergelegt werden. Durch die - hier i.W. allein erfolgte - bloße Verständigung der Beteiligten, im Rahmen einer telemedizinischen Schlaganfallversorgung leitlinienkonform behandeln zu wollen, kommen die Beteiligten nicht in hinreichendem Maße ihrer Absprache- und Koordinationsverpflichtung nach.

Ferner wäre im konkreten Fall die Hinzuziehung nicht nur der Radiologen, sondern auch der Neurologen des Zentralklinikums 15 Minuten nach Aufnahme der Klägerin - also nach Ausschluss internistischer Erkrankungen als Grund für die Bewusstlosigkeit - erforderlich gewesen.

Das Landgericht sah hierin grobe Fehler und verurteilte die beklagte Klinik, u.a. ein Schmerzensgeld von 120.000 EUR an die Klägerin zu zahlen. Die beklagte Klinik müsse sich die Versäumnisse des Zentralklinikums zurechnen lassen.

Praxisanmerkung:

Die Festlegung von Checklisten oder Standard Operating Procedures ist insbesondere in Bereichen, in denen Fehler zu erheblichen Gesundheitsschäden des Patienten führen können (wie Geburtshilfe, Kardiologie, Lungenheilkunde, Neurologie) dringend geboten. 

Bei der Behandlung der Not- und Eilfälle sind also enge Absprachen der Behandlenden untereinander erforderlich.

Diese Pflicht beginnt bereits bei den Absprachen zwischen Klinikärzten und Sanitätern in den Rettungswagen. Die Rettungswagenbesatzungen verfahren standardmäßig wie folgt: Polytraumata, Herzinfarkte, Schlaganfälle und alles, was im Schockraum behandelt werden muss, werden immer telefonisch in dem Zielkrankenhaus angemeldet. Dann kann (und muss) das Zielkrankenhaus mitteilen, wenn eine adäquate Behandlung nicht möglich ist, so dass der Rettungswagen zeitnah ein anderes Krankenhaus ansteuern kann. Alle Kliniken sind aber verpflichtet, im Zweifel jeden Notfallpatienten aufzunehmen - auch ein kleines Krankenhaus muss daher nachts jeden Patienten aufnehmen, wenn die Sanitäter diesen dort abliefern. 

Es ist aber letztlich immer eine Einzelfallentscheidung des Sanitäters und der Klinik, wie mit dem Patienten verfahren werden soll. In bestimmten Fällen ist es auch ratsam, den Patienten sogleich in eine Klinik der Maximalversorgung zu bringen, wenn dies zeitlich möglich ist. Es kommt in der Praxis durchaus auch vor dass ein Klinikarzt einer kleinen Klinik dann kurz in den vorgefahrenen Rettungswagen einsteigt und den Patienten anschaut. Kommt er zu dem Schluss, dass der Patient in dem kleineren Haus nicht adäquat versorgt werden kann und eine Weiterfahrt in ein größeres Haus geboten und auch medizinisch vertretbar ist, kann er die Weiterfahrt in eine größere Klinik der Maximalversorgung veranlassen und sollte die Ankunft des Patienten in dieser größeren Klinik sogleich telefonisch avisieren, und so dort notwendiges Personal und Räume blocken und vorbereiten lassen. Dieses Vorgehen ist auch aus haftungsrechtlicher Sicht unbedingt erforderlich. Unbedingt erforderlich ist auch, dass die betroffenen Ärzte alle Entscheidungsprozesse und die veranlassen Maßnahmen sowie Telefongespräche in groben Zügen dokumentieren. Dies gilt auch dann, wenn der Patient zwar kurz - wie in dem vorgenannten Beispielsfall benannt - vom Klinikarzt angesehen, letztlich aber gar nicht in dem eigenen Haus behandelt wurde. 

 

Die Entscheidung des Landgerichts München im Volltext:

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 120.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 29.12.2020 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die sich aus dem Behandlungsfehler vom 01.02.2017 ergebenden materiellen und unvorhersehbaren immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit diese nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die Nebenintervenientin trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin macht Schmerzensgeldansprüche geltend und begehrt die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten im Zusammenhang mit einer medizinischen Notfallbehandlung am 01.02.2017.

Die am 08.01.1971 geborene Klägerin, die unter einem vorbestehenden Sjörgen Syndrom litt, kollabierte am Abend des 01.02.2017 in ihrem Wohnzimmer und wurde sodann mittels RTW in das Krankenhaus ..., deren Trägerin die Beklagte ist, verbracht, wo sie um 18.49 Uhr eintraf.

Die Ärzte der Beklagten veranlassten um 19.26 Uhr eine CT-​Untersuchung, die seitens der Ärzte des Zentralklinikums ... befundet wurde. Nachdem keine Besserung eintrat, wandte sich der Arzt der Beklagten um 20.00 Uhr erneut an das Zentralklinikum ... und bat um eine Neubefundung. [CT-​A]

Um 21.45 Uhr teilten die Ärzte des Zentralklinikums ... den Ärzten des Krankenhauses ... die Diagnose eines akuten ischämischen Mediainfarkts rechts mit.

Um 22.45 Uhr wurde die Klägerin mit dem Rettungswagen ins Klinikum ... verlegt, nachdem der RTH Christoph um 22.01 Uhr mitgeteilt hatte, wegen schlechten Wetters nicht starten zu können.

Die Klägerin behauptet,

die Ärzte der Beklagten hätten zum einen die gebotene Diagnostik, insbesondere eine Fremdanamnese durch die Tochter und den Ehemann der Klägerin, die zeitgleich mit dem RTW eingetroffen seien und im Wartebereich der Notaufnahme gewartet hätten, ohne dass sich jemand bei ihnen gemeldet habe, und eine CT-​Angiografie im Hinblick auf eine möglicherweise frische, mittels CT nicht ausschließbare Ischämie, nicht rechtzeitig durchgeführt. Zum anderen hätten sie die Verlegung der Klägerin in ein Krankenhaus mit Vollversorgung schuldhaft verzögert. Bei rechtzeitiger Diagnostik und mechanischer Rekanalisation hätte der schwere Schlaganfall mit bleibender Behinderung mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % verhindert werden können.

Die Klägerin leide unter den Folgen des ischämischen Mediainfarkts mit angeblicher linksseitiger spastischer Hemiparese, die sich in einer Vigilanzminderung und eine Blickwendung nach rechts äußere. Die Klägerin sei auf einen Gehstock, außer Haus auch auf einen Rollstuhl, und Hilfe bei der Körperpflege angewiesen (Pflegegrad 3). Die Klägerin sei anerkannt schwerbehindert mit einem GdB von 100 und den Merkzeichen G und aG (vgl. Schwerbehindertenausweis, Anl. K 4). Sie stehe unter Betreuung ihres Ehemanns und leide unter starker Affektlabilität sowie depressiver Stimmung (vgl. psychiatrisches Gutachten, Anl. K 5).

Die Klägerin beantragt:

I. Die Beklagte wird dazu verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

II. Die Beklagte wird dazu verurteilt, der Klägerin die sich aus dem Behandlungsfehler vom 01.02.2017 ergebenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit diese nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Die Beklagte beantragt:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Nebeninterventientin beantragt:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beklagte behauptet, die Behandlung sei lege artis erfolgt, insbesondere seien - entsprechend dem Standard des Tesaurus-​Telemedizin-​Netzwerks - die Ärzte des Zentralklinikums ... zeitgerecht in die Diagnostik eingebunden worden. Dabei seien die Ärzte der Beklagten davon ausgegangen, dass die Beschwerden wohl zwischen 17.00 Uhr und 18.00 Uhr begonnen haben (Bl. 54 d. A.).

Die (u. a. wetterbedingte) Verzögerung der Verlegung der Klägerin in das Zentralklinikum ..., welche nach telefonischer Mitteilung der Diagnose eines schweren Medianinfarkts um 21.45 Uhr veranlasst worden sei, habe die Beklagte nicht zu vertreten.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Einholung eines internistischen Sachverständigengutachtens und einer amtlichen Auskunft der ILS Oberland. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Auskunft vom 11.02.2020, das Gutachten des Dr. ... vom 23.08.2021 und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 05.04.2022 verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Klägerin steht Schadensersatz unter vertraglichen (§§ 280, 630a BGB) und deliktischen Gesichtspunkten (§ 823 BGB) zu, weil zur Überzeugung der Kammer feststeht, dass ihre Gesundheit infolge eines Behandlungsfehlers der Beklagten nicht unerheblich geschädigt worden ist.

Die Kammer hat sich durch den Facharzt für Innere Medizin Dr. ... beraten lassen. Der Sachverständige ist Chefarzt der Inneren Abteilung der ... und behandelt jährlich 50-​100 Schlaganfallpatienten in Kooperation mit der Neurologie, der Radiologie und der Neuroradiologie des Universitätsklinikums ... mittels telemedizinischem Netzwerk, welches zu dem bei der Beklagten etablierten System vergleichbar ist. Der Sachverständige hat die Behandlungsunterlagen gründlich ausgewertet und ist zu nachvollziehbaren und überzeugend begründeten Ergebnissen gekommen. Dem Sachverständigen lagen die divergierenden, aber in der Begründung durchweg knapp gehaltenen Einschätzungen der zuvor tätigen Gutachter (insbes. Anlagen K 1 - K 3) vor und er hat sich mit diesen auseinander gesetzt.

I. Die Behandlung war jedenfalls insoweit fehlerhaft, als eine CT-​Angiografie um mindestens 80 Minuten verzögert worden ist (vgl. S. 5 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 05.04.2022 und S. 11 und 13 des Gutachtens vom 09.09.2021). Dabei kann dahinstehen, ob die Verantwortung hierfür bei der Beklagten oder der Nebenintervenientin liegt, denn die Beklagte hat sich, soweit sie unter vertraglichen Gesichtspunkten haftet, das Verschulden der Nebenintervenientin gem. § 278 BGB zurechnen zu lassen. Einer Beweisaufnahme über die Behauptungen der Beklagten zum Zeitablauf bedurfte es nicht, denn eine Haftung der Beklagten ist wegen der Zurechnung des Verschuldens der Nebenintervenientin auch dann gegeben, wenn man die diesbezüglichen Behauptungen der Beklagten unterstellt, während die Nebenintervenientin nicht gehört wird, soweit sie diesen Beklagtenvortrag (und insbesondere die Behauptung, die Beklagte habe die Nebenintervenientin bereits um 19.15 Uhr kontaktiert) bestreitet (§ 67 HS. 2 ZPO). Schon allein der Zeitablauf zwischen Abschluss der ersten orientierenden Untersuchungen (gegen 19.15 Uhr) und Indikationsstellung für die CT-​Angiografie ist (grob) fehlerhaft. Im Übrigen hat die Beweisaufnahme ergeben, dass die Nebenintervenientin auch die Zeit zwischen (der nach ihrer Behauptung erstmaligen Kontaktaufnahme seitens der Beklagten um) 19.43 Uhr und 20.05 Uhr nicht hätte verstreichen lassen dürfen, bevor sie die angeforderte Auswertung der radiologischen Befunde übernimmt (S. 4 des Protokolls vom 05.04.2022). Die Nebenintervenientin hat im Übrigen angegeben, dass um 20.15 Uhr eine CT-​Angiografie für notwendig erachtet wurde und dies der Beklagten auch mitgeteilt worden sei, diese habe jedoch erst um 21.01 Uhr begonnen. Mindestens 30 Minuten Verzögerung (geht man von einer Aufrüstzeit von 15 Minuten aus, vgl. S. 5 des Protokolls) hat also die Beklagte selbst zu verantworten. Soweit, wie vom Sachverständigen nachvollziehbar beanstandet, die Abläufe offensichtlich nicht klar geregelt waren, ist dies ein Organisationsversäumnis, das beide beteiligten Krankenhäuser zu verantworten haben (vgl. S. 3 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 05.04.2022 und S. 13 des Gutachtens vom 09.09.2021). Die Schlaganfallbehandlung ist für alle Beteiligten komplex. Wenn man als kleines Krankenhaus Schlaganfallpatienten versorgt, ist eine engmaschigste Vernetzung erforderlich. Erforderlich sind detaillierte Regelungen, wer für was zuständig ist. Diese können beispielsweise in einer SOP (Standard-​Operating-​Procedure) niedergelegt werden. Durch die - hier i.W. allein erfolgte - bloße Verständigung der Beteiligten, im Rahmen einer telemedizinischen Schlaganfallversorgung leitlinienkonform behandeln zu wollen, kommen die Beteiligten nicht in hinreichendem Maße ihrer Absprache- und Koordinationsverpflichtung nach (vgl. zu dieser Spickhoff/Knauer/Brose Medizinrecht 3. Aufl. § 222 StGB Rn. 48), um sicherzustellen, dass die gebotenen Diagnose- und Behandlungsschritte im Falle der notfallmäßigen Versorgung eines Schlaganfallpatienten mit der gebotenen Schnelligkeit erfolgt (vgl. die Erläuterungen des Sachverständigen auf S. 2/3 des Protokolls vom 05.04.2022 unter Bezugnahme auf die von Seiten der Beklagten mit Schriftsatz vom 03.08.2021 vorgelegten Unterlagen über die Vereinbarungen im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Nebenintervenientin).

Ferner wäre im konkreten Fall die Hinzuziehung nicht nur der Radiologen, sondern auch der Neurologen der Nebenintervenientin 15 Minuten nach Aufnahme der Klägerin - also nach Ausschluss internistischer Erkrankungen als Grund für die Bewusstlosigkeit - erforderlich gewesen (vgl. S. 3 und 4 des Protokolls vom 05.04.2022). Die Nebenintervenientin und die Beklagte haben der Feststellung der Kammer (S. 3 des Protokolls) nicht widersprochen, dass weder die Beklagte, noch die Radiologen der Nebenintervenientin auf die rechtzeitige Hinzuziehung der Neurologen der Nebenintervenientin gedrängt haben. Dies zu verlangen, wäre jedoch im Verantwortungsbereich beider beteiligter Funktionseinheiten gestanden und im Übrigen hat sich die Beklagte - wie ausgeführt - die Versäumnisse der Nebenintervenientin zurechnen zu lassen (so auch der Sachverständige, vgl. S. 3 des Protokolls vom 05.04.2022), weshalb letztlich dahinstehen kann, ob der Einwand der Nebenintervenientin (S. 3 und 4 des Protokolls) zutrifft, wegen einer zu späten Kontaktaufnahme (nämlich erst um 19.43 Uhr und nicht bereits um 19.15 Uhr, wie die Beklagte behauptet - S. 4 des Protokolls vom 05.04.2022) habe die Beklagte der Nebenintervenientin die Möglichkeit genommen, noch sinnvoll telemedizinisch von neurologischer Seite bei der Erstdiagnostik mitwirken zu können, ohne hierdurch die gebotenen Maßnahmen weiter zu verzögern.

II. Die verbliebenen neurologischen Beeinträchtigungen beruhen auf dem Behandlungsfehler.

1. Der Klägerin kommt die Beweislastumkehr gem. § 630h Abs. 5 S. 2 BGB zugute (so auch bereits die Schlichtungsstelle der Landesärztekammer in ihrer abschließenden Stellungnahme vom 07.11.2018, Anlage K 7).

a) Die CT-​Angiografie wurde nicht zeitgerecht durchgeführt (s.o.).

b) Wäre sie zeitgerecht erfolgt, so hätte sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen Schlaganfall als reaktionspflichtigen Befund gezeigt (sofortige Verlegung zum Zweck von rekanalisierenden Maßnahmen - vgl. S. 6 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 05.04.2022 und S. 14 des Gutachtens vom 09.09.2021).

c) Die Nichtreaktion hierauf wäre "grob fehlerhaft" gewesen (vgl. S. 6 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 05.04.2022).

2. Die Verzögerung ist grob fehlerhaft (vgl. mündliche Verhandlung vom 05.04.2022, S. 4 unten des Protokolls: "völlig unverständlich"; ferner: S. 15 des Gutachtens vom 09.09.2021). Angesichts des relativ jungen Alters der Patientin und der gravierenden Bewusstseinsstörung, für welche es bis 19.40 Uhr keine nachvollziehbare Diagnose gab, ist das ohne Weiteres nachvollziehbar - und zwar unabhängig davon, ob man von Organisationsmängeln, von Versagen im konkreten Behandlungsfall oder von beidem ausgeht. Der Sachverständige hat anschaulich dargestellt, dass eine leitliniengerechte Schlaganfallversorgung eine engmaschigste Vernetzung erfordere, die im vorliegenden Fall nicht gegeben war.

III. Die Beklagte hat die Klägerin für den Gesundheitsschaden zu entschädigen und auch für die weiteren Folgen einzustehen. Die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für das neurologische Defizit ist hoch wahrscheinlich; vielleicht wäre sogar eine Restitutio ad integrum möglich gewesen (S. 15 des Gutachtens).

1. Die Kammer erachtet im vorliegenden Fall ein Schmerzensgeld in Höhe von 120.000,00 € für angemessen (§ 253 Abs. 2 BGB, § 287 ZPO).

Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss (BGH VersR 1976, 440, OLG München, Urteil vom 27.10.2006, 10 U 3345/06, Rn. 13). Die Schwere dieser Belastungen wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt. Besonderes Gewicht kommt dabei etwaigen Dauerfolgen der Verletzungen zu, und zwar auch soweit sie sich auf die private und berufliche Situation des Geschädigten auswirken (vgl. etwa OLG München, Urteil vom 10.07.2008, 1 U 4923/07, Rn. 67).

Die Kammer hat bei der Bemessung des Schmerzensgeldes insbesondere berücksichtigt: die Halbseitensymptomatik mit spastischer Hemiparese links in Verbindung mit Sensibilitätsstörungen, das milde hirnorganische Psychosyndrom, die Pflegebedürftigkeit der Klägerin, Erforderlichkeit von Rollstuhl bzw. anderweitiger Gehhilfe, evtl. Rollator. Zu den Einzelheiten und insbesondere auch zu dem Ergebnis der Exploration der Klägerin nimmt die Kammer Bezug auf S. 6 bis 9 des Gutachtens vom 09.09.2021 sowie ergänzend auf das auch vom Sachverständigen zitierte Gutachten des Psychiaters ... (Anl. K 5). Im Ergebnis kann die Klägerin im Hinblick auf ihre ausgeprägte Hemiparese mit der erheblichen Spastik keine sinnvolle Haushaltstätigkeit in effektiver Weise verrichten (vgl. ergänzend die vor dem Hintergrund der Feststellungen des Sachverständigen nachvollziehbare Schilderung auf S. 3 des Schriftsatzes vom 10.02.2022 sowie das Pflegegutachten, Anl. K 2) sowie den von ihr erlernten Beruf als Hauswirtschafterin und die von ihr zuletzt ausgeübten Tätigkeiten wie Zeitungen austragen und Regalservice nicht mehr ausüben (vgl. auch Schriftsatz vom 22.12.2021). Sie ist auf Pflege durch ihre Angehörigen angewiesen (Pflegegrad 3 seit 2017, 100% - ige Schwerbehinderung); es besteht eine rechtliche Betreuung als Folge der durch das streitgegenständliche Geschehen ausgelösten Persönlichkeits- und Verhaltensstörung. Sie bedarf einer umfassenden Behandlung und Medikation. Die Klägerin ist zur Person und ihrer Situation orientiert. Sie ist sich auch des Umstands bewusst, dass sie für ihre 3 Kinder, von denen jedenfalls die jüngste - Magdalena (geboren am 11.11.2011, zu 80 % schwerbehindert und daher auf besondere elterliche Fürsorge angewiesen, vgl. Anl. K 9) - noch zu Hause lebte und lebt, nicht im Ansatz in der Weise sorgen kann, wie dies einer gesunden Mutter möglich (gewesen) wäre (vgl. auch Schriftsatz der Klägerin vom 21.12.2021). Dass sie angesichts dieser Lebenssituation depressive Episoden hat, die angesichts laufender Therapie nur noch leicht- bis mittelgradig sind, verwundert nicht.

2. Der Klageantrag zu Ziff. 2. war als Feststellungsantrag wie tituliert auszulegen und erweist sich als begründet.

IV. Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 91 Abs. 1, 709 S. 1 ZPO.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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