Der Umstand, dass bei der konkreten Behandlung (hier: PRT) über eine Querschnittlähmung noch nicht berichtet worden ist, reicht nicht aus, dieses Risiko als lediglich theoretisches Risiko einzustufen und eine Aufklärungspflicht zu verneinen. Bei neuen Behandlungsmethoden haben Ärzte den Patienten umfassend über mögliche Risiken der Behandlung aufklären. Dabei haben sie auch über wahrscheinliche Risiken aufzuklären. Dies gilt auch dann, wenn diese Risiken in der Literatur noch nicht beschrieben worden sein sollten (BGH, Urteil vom 06.07.2010 - VI ZR 198/09 -).

Eine an Verschleiß und eine Wurzelbedrängung im Bereich der Halswirbelsäule leidende Patientin ließ sich von ihrem Orthopäden mit der damals noch neuartigen Methode der periradikulären Therapie (PRT: Injektion in die Wirbelsäule) behandeln. Der Orthopäde klärte die Patientin insoweit auf, als es bei dieser Behandlung bislang bei wenigen Patienten zu Lähmungen gekommen sei. Diese Lähmungen hätten sich aber stets wieder zurückgebildet. Weiter hieß es: "Lähmungen (auch Querschnittslähmungen) nach Blutungen, Entzündungen oder direkten Nervenverletzungen sind extrem selten."

Weil es nach der Operation zu einer Querschnittslähmung bei der Patientin kam, klagte diese auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen den Orthopäden und zwar gestützt unter anderem auf den Vorwurf der mangelhaften Risikoaufklärung.

Im Gerichtsverfahren wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt, welches ausführte, dass im Zusammenhang mit der periradikulären Therapie zum Zeitpunkt des Durchführungseingriffs noch nicht über Tetraplegie berichtet worden sei. Diese gehöre allerdings zu den Risiken bei allen Wirbelsäuleninjektionen. Der Sachverständige hat darauf abgestellt, dass bleibende Lähmungen bis hin zu Querschnittlähmungen nach wirbelsäulennahen Injektionen allgemein nicht auszuschließen seien, auch wenn der Entstehungsmechanismus unterschiedliche Ursachen haben kann. Er hat bei seiner mündlichen Anhörung ausdrücklich erklärt, er halte eine Aufklärung über das Risiko einer Querschnittlähmung auch dann für erforderlich, wenn noch keine Vorfälle einer Querschnittlähmung bei der Durchführung von PRT bekannt geworden seien. Entscheidend sei dabei, dass die Wirbelsäule das zentrale Nervensystem enthalte und unbeabsichtigt Blutungen entstehen könnten. Wenn dies geschehe, habe man die Querschnittlähmung. Dies wisse man von anderen wirbelsäulennahen Eingriffen, wie z. B. der Epiduralinfiltration. Die durch die CT-Kontrolle mögliche, äußerst genaue Positionierung der Nadel schließe die bekannten Komplikationen anderer wirbelsäulennaher Injektionstechniken nicht aus.Der Sachverständige war aus diesem Grund der Auffassung, es sei daher über das Risiko einer Querschnittslähmung aufzuklären gewesen.

Das zunächst vom Patienten angerufene Landgericht, wie auch das Oberlandesgericht Hamburg, folgten dieser Auffassung des Sachverständigen aber nicht. Die Tetraplegie sei nach Ansicht der Richter der ersten Instanzen ein "rein theoretisches Risiko" gewesen, über das der Arzt nicht habe aufklären müssen.

Dem trat der Bundesgerichtshof entgegen. Er hob das Urteil des OLG Hamburg auf. Zwar sei es richtig, dass über Risiken, die zum Zeitpunkt einer Behandlung noch nicht bekannt seien, nicht aufgeklärt werden müsse. Rein theoretische Risiken seien in der Tat nicht aufklärungspflichtig.

Eine Aufklärungspflicht bestehe aber auch über noch nicht beschriebene Risiken, wenn sie schon aus rein anatomischen Gründen greifbar seien. Hier habe der Sachverständige keineswegs nur über theoretische Risiken gesprochen, sondern ausdrücklich erklärt, dass die Querschnittslähmung ein typisches Risiko wirbelsäulennaher Eingriffe sei. Denn die Wirbelsäule enthalte das zentrale Nervensystem und es könnten Blutungen entstehen. Die Gerichte der Vorinstanz, so der BGH, hätten über diese Darlegungen des Gutachters nicht einfach hinweggehen können. Sollte sich die Gefahr einer Querschnittslähmung bei einer PRT schon aus den anatomischen Verhältnissen ergeben, hätte schon zum Zeitpunkt der Behandlung ein spezifisches - nicht nur theoretisches - Risiko der konkreten Behandlung vorgelegen, über das grundsätzlich auch ohne vorher bekannt gewordene Schadensfälle aufzuklären war. Dazu muß das Gericht den Sachverständigen eingehend befragen.

Der BGH hat die Sache mithin an das OLG Hamburg zurückverwiesen, damit dieses mittels sachverständiger Beratung klären kann, ob aufgrund der anatomischen Gegebenheiten der Wirbelsäule bei einer PRT ebenso wie bei anderen wirbelsäulennahen Injektionen generell das spezifische Risiko einer Querschnittlähmung besteht, und ob dies dem Beklagten zum Zeitpunkt der Behandlung bekannt sein musste.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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