Vor der Durchführung einer Koloskopie ist der Patient auch über die selten auftretende Darmperforation und deren Lebensbedrohlichkeit konkret aufzuklären (OLG Hamm, Urteil vom 18. Juni 2013 - Az. 26 U 85/12).

Der Hinweis auf "unvermeidbare nachteilige Folgen" wirkt demgegenüber in höchstem Maße verharmlosend. Bei einem komplikationsträchtigen Krankheitsverlauf mit intensivmedizinischer Langzeitbeatmung, mehreren erlittenen Dekubiti, Spitzfußstellung, künstlichem Darmausgang ist ein Schmerzensgeld von 220.000,00 € angemessen.

Der Fall:

Aufgrund einer Überweisung seines Hausarztes Dr. U wegen Blutungen beim Stuhlgang in der Zeit zwischen dem 01.09.2007 und dem 10.09.2007 stellte sich der am 02.06.1959 geborene Kläger am 18.09.2007 in der Praxis des Beklagten vor. Nachdem er noch am gleichen Tag eine Einverständniserklärung unterzeichnet hatte, auf deren Inhalt Bezug genommen wird, führte der Beklagte am 14.11.2007 eine Koloskopie mit Polypabtragung durch. In Folge dieses Eingriffs kam es wahrscheinlich nicht unmittelbar, sondern zweizeitig zu einer Darmperforation mit einer Entzündung des Bauchfells.

Am 19.11.2007 meldete sich der Kläger telefonisch beim Beklagten, wobei Inhalt und Anlass dieses Telefonats zwischenden Parteien streitig sind.

Am 23.11.2007 wurde er wegen massiver Beschwerden stationär aufgenommen. Nach der Diagnose einer Darmperforation wurde der Kläger notfallmäßig operiert und noch bis April 2008 mehrfach operativ sowie zeitweilig auch intensivmedizinisch mit Langzeitbeatmung behandelt. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf den Arztbrief des Diakonie Klinikums P vom 20.4.2008 Bezug genommen. In der Zeit vom 11.5.2008 bis zum 2.6.2008 befand sich der Kläger erneut in stationärer Behandlung wegen einer Bronchopneumonie mit septischem Schock und akuter respiratorische Insuffizienz. Anschließend wurde der Kläger in eine Rehabilitationsklinik verlegt. Der Kläger musste sich weiteren Operationen unterziehen und über Monate intensiv-medizinisch behandelt werden. Er ist nunmehr frühberentet und zu 100% behindert. Ihm musste ein künstlicher Darmausgang gelegt werden.

Der Kläger hat Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 220.000 EUR sowie materiellen Schadensersatz und die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten für künftige Schäden mit der Begründung geltend gemacht, der Eingriff sei nicht indiziert gewesen. Er, der Kläger, sei nicht ordnungsgemäß über das Risiko einer Peritonitis und das Bestehen von Behandlungsalternativen aufgeklärt worden.

Die Entscheidung:

Das Oberlandesgericht Hamm gab der Klage des Patienten weitestgehend statt. Es sah einen Fehler in der Aufklärung über das Risiko einer Darmperforation.

Der Beklagte hat den ihm obliegenden Beweis für eine ordnungsgemäße Aufklärung nicht geführt.

a) Der Patient soll durch das Aufklärungsgespräch "Art und Schwere" des Eingriffs erkennen. Dazu müssen ihm die Risiken zwar nicht in allen denkbaren Erscheinungsformen dargestellt werden, es genügt vielmehr eine "allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des konkreten Risikos" ("im großen und ganzen"). In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass der Patient auch auf seltene und sogar extrem seltene Risiken hingewiesen werden muss, wo diese Risiken, wenn sie sich verwirklichen, "die Lebensführung schwer belasten und trotz ihrer Seltenheit für den Eingriff spezifisch, für den Laien aber überraschend sind". Der Sachverständige hat dazu in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass eine im Rahmen einer Koloskopie auftretende Perforation eine seltene Komplikation sei, die jedoch - falls sie eintrete - in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Bauchhöhlenentzündung zur Folge habe, so dass deren operative Sanierung notwendig werde. Daher sei das Risiko einer Perforation üblicherweise Gegenstand des Aufklärungsgesprächs.

Ob der Kläger von dem Beklagten in einer Weise aufgeklärt worden ist, die diesen Ansprüchen genügt, ist zwischen den Parteien umstritten. Der Kläger hat dazu vorgetragen, er habe die Einwilligungserklärung zwar bei seinem ersten Besuch beim Beklagten sofort in der Praxis unterschrieben. Ihm sei auch die Funktion der Koloskopie erklärt worden.

Auf Risiken sei er aber nicht hingewiesen worden.

Auch sei ihm die schriftliche Einwilligungserklärung nicht mitgegeben worden. Er habe die schriftliche Erklärung lediglich in der Praxis überflogen.

Demgegenüber hat der Beklagte angegeben, er nehme sich für die Aufklärung immer viel Zeit. Üblicherweise bekomme jeder Patient ein Gespräch von 30 Minuten. Er kläre nicht nur über die Notwendigkeit der Koloskopie auf, sondern sage auch, dass es zu Komplikationen kommen könne, z.B. werde das Auftreten von Schleimhautverletzungen erwähnt. Er weise zudem darauf hin, dass es zu Verletzungen kommen könne, die von ihm nicht mehr beherrscht würden und deshalb notfallmäßig behandelt werden müssten. Er spreche nicht von "Durchbruch", sondern von Darmwand-Verletzungen und weise darauf hin, dass ein Krankenhausaufenthalt mit Notoperation notwendig werden könne.

b) Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die vom Beklagten danach für gewöhnlich durchgeführte Aufklärung über die Risiken der Koloskopie auch ohne den ausdrücklichen und eindringlichen Hinweis darauf, dass eine Perforation in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Bauchhöhlenentzündung zur Folge habe, die eine operative Sanierung notwendig mache, den vom Sachverständigen formulierten Anforderungen genügt. Es ist im vorliegenden Fall schon nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen, dass der Beklagte den Kläger überhaupt auf die Risiken der Koloskopie in dem von ihm als üblich geschilderten Umfang aufgeklärt hat.

Der Senat verkennt nicht, das an den dem Arzt obliegenden Beweis der ordnungsmäßigen Aufklärung des Patienten keine unbilligen und übertriebenen Anforderungen gestellt werden dürfen (vgl. BGH, NJW 1985, 1399). Die besondere Situation, in der sich der Arzt während der Behandlung des Patienten befindet, ist naturgemäß ebenso zu berücksichtigen wie die Gefahr, die sich aus dem Missbrauch seiner Beweislast durch den Patienten zu haftungsrechtlichen Zwecken ergeben kann. Dem Arzt kann daher unter Umständen geglaubt werden, dass die Aufklärung auch im Einzelfall in der gebotenen Weise geschehen ist; dies auch mit Rücksicht darauf, dass aus vielerlei verständlichen Gründen Patienten sich im nachhinein an den genauen Inhalt solcher Gespräche, die für sie etwa vor allem von therapeutischer Bedeutung waren, nicht mehr erinnern. Deshalb muss auch der Arzt, der keine Formulare benutzt und für den konkreten Einzelfall keine Zeugen zur Verfügung hat, eine faire und reale Chance haben, den ihm obliegenden Beweis für die Durchführung und den Inhalt des Aufklärungsgesprächs zu führen. Nach der Rechtsprechung des BGH (BGH, a.a.O.) muss aber dafür, dass dem Arzt geglaubt werden kann, "einiger Beweis" für ein gewissenhaftes Aufklärungsgespräch erbracht worden sein. Das ist hier indessen nicht der Fall.

aa) Die vom Kläger unterzeichnete Einverständniserklärung vom 18.09.2007 vermag den Umfang der Aufklärung nicht zu beweisen. Aus den handschriftlichen Eintragungen des Beklagten geht lediglich hervor, dass eine "hohe Coloskopie, ggf. Polypabtragung, ggf. Biopsie" als Maßnahmen vorgesehen waren. Dass auch eine ausreichende Risikoaufklärung erfolgt ist, lässt sich der schriftlichen Erklärung nicht entnehmen. Im vorgedruckten Teil der Erklärung wird lediglich u.a. auf "die mit dem Eingriff verbundenen unvermeidbaren nachteiligen Folgen, mögliche Risiken und Komplikationsgefahren" hingewiesen. Diese allgemein gehaltene Abfassung des Schriftstücks ist aber - wie der BGH in der vom Beklagten selbst herangezogenen Entscheidung ausführt - "weithin inhaltslos."

Abgesehen davon beweist die Unterzeichnung derartiger Schriftstücke nicht, dass der Patient sie auch gelesen und verstanden hat, geschweige denn, dass der Inhalt mit ihm erörtert worden ist. Aushändigung und Unterzeichnung von Formularen und Merkblättern ersetzen nicht das erforderliche Aufklärungsgespräch, und erst recht kann ihnen nicht entnommen werden, dass der Patient über ein nicht ausdrücklich erwähntes Risiko informiert worden ist (vgl. BGH, NJW 1985, 1399). Die Existenz einer unterschriebenen Einwilligungserklärung des Patienten kann daher - wie auch der Beklagte selbst zutreffend erkannt hat - nur ein Indiz dafür sein, dass vor der Unterzeichnung überhaupt ein Aufklärungsgespräch über die Operation und deren mögliche Folgen geführt worden ist. Mithin kann hier nicht aufgrund der schriftlichen Erklärung davon ausgegangen werden, dass der Beklagte über das Risiko einer Darmwandverletzung mit möglicherweise lebensbedrohlichen Folgen hingewiesen worden ist. Vielmehr wirkt der Hinweis auf "unvermeidbare nachteilige Folgen" in höchstem Maße verharmlosend.

bb) Auch die Aussage der vernommenen Arzthelferin, der Zeugin O, ist nicht geeignet, den erforderlichen Beweis für eine hinreichende Aufklärung des Klägers zu erbringen. Ihre Aussage ist zum Beweis für eine konkrete Aufklärung unergiebig. Die Zeugin O hat zu der hier in Rede stehenden Aufklärung mit dem Kläger keine Angaben machen können. Sie hat lediglich bestätigt, dass sie bei Aufklärungsgesprächen üblicherweise nicht dabei sei und weiterhin - allerdings ohne nähere Erläuterung - bekundet, dass sie dennoch mitkriege, was gesprochen werde. Daher wisse sie, dass auf das Risiko einer Darmwandverletzung hingewiesen werde, die notfallmäßig im Krankenhaus behandelt werden müsse. Nach Auffassung des Senats kann daraus, dass die Zeugin um den üblichen Inhalt des Aufklärungsgesprächs weiß, noch nicht geschlossen werden, dass auch der Kläger im konkreten Fall auf das Risiko einer Darmwandverletzung hingewiesen worden ist. Auch die Aussage, für das Patientengespräch bestehe ein Zeitfenster von 30 Minuten, indiziert noch nicht den Umfang und den Inhalt des Aufklärungsgesprächs. Darüber hinausgehende Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass der Beklagte im vorliegenden Fall den Kläger entsprechend den von ihm behaupteten üblichen Gewohnheiten aufgeklärt hat, hat die Zeugin nicht bekundet. Aus ihrer Aussage geht nicht einmal hervor, dass sie eine konkrete Erinnerung an die Behandlung des Klägers und an die Dauer und den Inhalt des vom Beklagten mit ihm geführten Patientengesprächs gehabt hat. Schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass die Zeugin bekundet hat, dass in dem Aufklärungsgespräch gewöhnlich nicht gesagt werde, dass die Verletzung lebensbedrohlich sein könne, so dass nach ihrer Aussage auch nicht erkennbar ist, dass der Inhalt des Aufklärungsgesprächs des Beklagten ausreichend ist, um den Patienten über die Tragweite seiner Einwilligung hinreichend zu informieren. Die Vernehmung der vom Beklagten bereits in erster Instanz als Zeugin benannten Arzthelferin, Frau X, scheidet aus, nachdem diese zwischenzeitlich verstorben ist.

Praxistipp:

Die patientenfreundliche Entscheidung zeigt dreierlei:

Erstens ist der Aufklärungsfehlervorwurf ein scharfes Schwert, das auch hier gestochen hat.

Zweitens kann ein Arzt, der behauptet, er führe üblicherweise ein halbstündiges Aufklärungsgespräch über eine Koloskopie (!), nicht ernst genommen werden. Kein Arzt hat soviel Zeit zur Verfügung. Niemand klärt eine halbe Stunde lang über eine Untersuchung mit einfacher Polypabtragung auf (es sei denn, es läge ein Krebsverdacht oder eine negative Prognose vor). Üblicherweise ist es vielmehr so, wie der Patient behauptet hat: Der Arzt ist in Eile, er übergibt ein Formular, spricht das kurz durch mit dem Patienten, wobei der Fokus auf der technischen Durchführung liegt und das war es. Dem Arzt gereichte es zum Nachteil, dass er offenbar auch noch ein veraltetes Koloskopie-Aufklärungsformular verwendete, das noch nicht einmal das größte Risiko (Tod) ausdrücklich erwähnte. Jedem operierenden Arzt kann nur geraten werden, seine Formulare aktuell zu halten. Auch hatte die Helferin nicht behauptet, es werde üblicherweise auch darauf hingewiesen, dass eine Darmperforation auch lebensgefährlich ist.

Besonders beachtenswert ist, dass die standardmäßig vorgebrachte Verteidigung: "So klären wir immer auf, das kann unsere Arzthelferin bezeugen!" diesmal NICHT verfing. Das Gericht ging diesmal nicht davon aus, dass man vom Üblichen zum Tatsächlichen schließen könne. Sollte dies Schule machen, würde die Verteidigung gegen Aufklärungsfehlervorwürfe künftig erheblich erschwert. Umso wichtiger ist die richtige, umfassende, gut dokumentierte und frühzeitige (nicht erst am Tag der Operation) Aufklärung. Jedem Arzt kann nur geraten werden, sich dafür die dafür erforderliche Zeit freizuboxen und vor allem dem Patienten eine Kopie bzw. einen Durchschlag "seines" Aufklärungsformulars mitzugeben.

Drittens können die Nachteile für den hier betroffenen Patienten sogar zu einem Schmerzensgeld von über 200.000 EUR führen. Damit dringt das OLG Hamm in Regionen vor, die früher überwiegend den Fällen schwerer und lebenslanger Geburtsschäden vorbehalten waren.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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