Das LG Coburg hat entschieden, dass eine Pflichtverletzung eines Heimbetreibers nur im Rahmen einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles festgestellt werden kann und insbesondere dem Heimträger auch ein gewisser Beurteilungsspielraum hinsichtlich der zu treffenden Maßnahmen zuzubilligen ist (LG Coburg, Urteil vom 24.01.2014 - 22 O 355/13 -).

Eine gesetzliche Krankenkasse verlangte Schadensersatz von einem Seniorenheim aus auf sie übergegangenem Recht wegen eines Sturzes einer bei ihr Versicherten. Die Versicherte befindet sich seit 2008 in dem Seniorenheim. Sie leidet an Demenz vom Typ Alzheimer. In einem Pflegegutachten wurden der Seniorin Sturzneigung und eine Weglauftendenz bescheinigt. Das Betreuungsgericht hatte auf Antrag Maßnahmen zur Fixierung der alten Dame genehmigt. Im August 2010 wurde die Alzheimer-Patientin wie jeden Tag in den Speisesaal geführt. Nachdem man sie in einen Sessel gesetzt hatte, wurde sie an den Tisch geschoben. Kurze Zeit später bemerkte das Pflegepersonal, dass die Seniorin nicht mehr in ihrem Sessel saß. Sie war in das Treppenhaus gelaufen, dort gestürzt und hatte sich Brüche, u.a. am Halswirbel, zugezogen. Die Klägerin zahlte deswegen Behandlungskosten über 20.000 Euro, welche sie vom Pflegeheim ersetzt haben wollte.

Die Klägerin war der Ansicht, das Heim habe den Sturz pflichtwidrig verursacht. Dem Heim seien die Weglauftendenz und die Sturzneigung bekannt gewesen. Am Sessel der Seniorin sei ein Fixierbrett anzulegen gewesen. Zudem sei die Bewohnerin des Seniorenheims pflichtwidrig nicht beaufsichtigt worden. Das Seniorenheim verteidigte sich damit, dass es der Betroffenen seit etwa einem Jahr nicht mehr gelungen wäre, aus eigener Kraft aufzustehen. Man habe die alte Dame ausreichend beaufsichtigt. Es sei nicht notwendig gewesen, ein Fixierbrett am Sessel der Heimbewohnerin anzubringen.

Das LG Coburg hat die Klage der Krankenkasse auf Erstattung der Behandlungskosten in Höhe von über 20.000 Euro abgewiesen.

Das Landgericht konnte eine Pflichtverletzung des Heims nicht feststellen. Nach Auffassung des Landgerichts ist die Pflicht eines Seniorenheims begrenzt auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Dabei sei insbesondere auch zu beachten, dass beim Wohnen im Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner zu wahren und zu fördern sind. Aus der Tatsache, dass ein Schaden eingetreten ist, könne nicht im Nachhinein der Schluss auf eine Pflichtwidrigkeit des Heimträgers gezogen werden. Der Heimträger habe einen Beurteilungsspielraum in der Entscheidung über die Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen. Sofern die Entscheidung vertretbar erscheint, führten eingetretene Unfälle nach der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht zu einer Verantwortlichkeit des Heimträgers.

Das Landgericht kam nach der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis, dass sich die Bewohnerin nicht in einer konkreten Gefahrensituation befand. Zwar waren hinsichtlich der Betroffenen in einem Pflegegutachten über ein Jahr vor dem Unfall eine Sturzneigung und eine Weglauftendenz festgestellt worden. Jedoch gelangte das Landgericht aufgrund Zeugeneinvernahmen zu dem Ergebnis, dass die Betroffene seit längerer Zeit nicht mehr selbst aus ihrer jeweiligen Sitzposition aufgestanden war. Daher sei eine zwangsweise Fixierung im Sessel nicht mehr erforderlich gewesen. In der Pflegedokumentation sei für die Zeit vor dem Unfall ausgeführt, dass die Erkrankte tagsüber sehr ruhig in ihrem Ohrensessel sitze und deshalb auf eine Fixierung verzichtet werde. Auch finde sich dort die Einschätzung, dass die Heimbewohnerin nicht mehr aus eigener Kraft aus dem Bett oder Stuhl aufstehen könne, beim Sitzen bestehe keine Sturzgefahr.

Auch das Anbringen eines Fixierbretts am Sessel hätte eine Belastung für die Heimbewohnerin dargestellt. Eine Mitarbeiterin des Pflegepersonals hatte ausgesagt, dass die Bewohner das Fixierbrett als unangenehm empfinden, weil es auf dem Bauch aufliege. Es sei erkennbar, dass Heimbewohner das Fixierbrett störe. Das Landgericht sah es als nicht geringfügige Belastung an, mehrere Stunden am Tag mit einem Brett dicht am Körper fixiert zu sein, da dadurch die Sitzposition innerhalb des Sessels nur eingeschränkt verändert werden könne. Auch die Tochter der Verunfallten hatte vom Heim gewünscht, auf das Fixierbrett zu verzichten. Dass das Betreuungsgericht Fixierung genehmigt hatte, sei kein Befehl an den Heimträger, sondern lediglich die gerichtliche Erlaubnis.

Auch liege keine Pflichtverletzung darin, dass die Heimbewohnerin sich 10 bis 15 Minuten ohne Aufsicht im Speisesaal befunden hat. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung seien bis zu 15 Minuten ohne Beaufsichtigung keine Pflichtverletzung des Heimträgers. Die Forderungen nach lückenloser Beaufsichtigung überschreite das wirtschaftlich Zumutbare. Im vorliegenden Fall waren die Türen des Speisesaals offen, so dass Blicke des Heimpersonals in den Saal auch innerhalb der 15 Minuten möglich waren. Das Nichterkennen des Weggehens eines einzelnen Heimbewohners stelle keine Pflichtverletzung dar.

Quelle: Pressemeldung juris

Anmerkung:

Die Entscheidung ist in Anbetracht der Tatsache, dass die Bewohnerin nach Zeugenaussagen längere Zeit keine Tendenz zum Aufstehen gezeigt hatte und vielmehr ruhig in ihrem Stuhl saß und auch gar nicht in der Lage war, aus eigener Kraft aufzustehen, folgerichtig. Denn dadurch bestand keine konkrete Weglaufgefahr mehr.

Anders sind aber die Fälle zu bewerten, in denen Bewohner aktuell unruhig sind und zum Weglaufen neigen. Denn dann besteht eine aktuelle Weglaufgefahr, auf die das Heim durch verstärkte Aufsicht reagieren muss. Kann das Heim dies personell nicht bewerkstelligen, darf es den Bewohner gar nicht erst zur Betreuung annehmen. Gerade demente Patienten neigen krankheitsbedingt zum Weglaufen. Die Angehörigen sollten dann ein Heim suchen, in dem der Bewohner die Möglichkeit hat, z.B. öfter im Zimmer der Pflegekräfte zu sitzen. Denn Dementi laufen weg, weil keine Bezugspersonen in der Nähe sind. Befinden sich aber Personen in der Nähe, die sich auch ab und an mit dem Bewohner unterhalten (in diesem Fall also die Pfleger), so hat der Bewohner bereits keinen Anlass wegzulaufen.

Sinnvoll isst es, sich ein Heim auszusuchen, in dem die Bewohner eine elektronische Fußfessel erhalten, die per Sensor ein Verlassen der Station meldet. Diese elektronischen Meldesysteme sind für den Bewohner keine Beschränkung (anders also als z.B. ein Fixierbrett am Stuhl) und ermöglichen einen effektiven Schutz gegen ein Weglaufen und damit gegen einen Sturz.    

Zum Thema:

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
Vertretung und Beratung im Medizinrecht und Arztrecht
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