Das SG Marburg hat entschieden, dass das Apotheken-Wahlrecht des Patienten Vorrang hat vor dem Exklusivvertrag, den eine Kasse in Hessen mit verschiedenen Apotheken geschlossen hat. Der Apotheker, der ohne an dem Exklusivvertrag teilzunehmen Zytostatika an Patienten nach ärztlicher Verordnung abgab, darf nicht retaxiert werden (SG Marburg, Urteil vom 10.9.2014 - S 6 KR 84/14).

Seit Dezember 2013 verfolgt die AOK Hessen im Bereich der Zytostatika-Versorgung einen neuen Weg. Sie hat für 23 Gebiete in Hessen Exklusivverträge europaweit ausgeschrieben und an die preisgünstigsten Apotheken für die Versorgung ihrer Versicherten mit Zytostatikazubereitungen Zuschläge erteilt.

Ein Apotheker hatte geklagt, weil er für die Versorgung von Versicherten der AOK Hessen seit Dezember 2013 keine Vergütung mehr erhalten hatte. Seine Apotheke befindet sich im gleichen Haus, wie eine onkologische Gemeinschaftspraxis, deren Patienten der Kläger seit Jahren mit Zytostatikazubereitungen versorgt. Die beiden Onkologen hatten trotz entsprechender Information der AOK Hessen über die "Exklusivvereinbarung" mit einer anderen Apotheke weiterhin Verordnungen an ihre Patienten ausgehändigt und diese über ihr Apothekenwahlrecht informiert. Dies hat das Gericht nicht beanstandet. Das Gericht verpflichtete die Kasse, dem Apotheker die retaxierten Beträge zu erstatten.

Zwar unterliegen die Wettbewerbsposition und die Erträge grundsätzlich dem Risiko laufender Veränderung je nach den Marktverhältnissen. Jedoch bewirkt vorliegend die Wettbewerbsveränderung durch Einzelakt (Anmerkung: der Exklusivvertrag), die erhebliche Konkurrenznachteile zur Folge hat, eine Verletzung des Grundrechts der Berufsfreiheit, da sie im Zusammenhang mit staatlicher Planung und der Verteilung staatlicher Mittel steht (vgl BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.08.2004 – 1 BvR 378/00). Die Krankenkassen haben jedem zugelassenen und geeigneten Leistungserbringer die Möglichkeit zur Beteiligung an der Versorgung der Versicherten nach Maßgabe sachgerechter, vorhersehbarer und transparenter Kriterien im Rahmen der jeweils geltenden gesetzlichen Vorgaben einzuräumen. Solange das Leistungserbringungsrecht nicht selbst den Zugang zur GKV-Versorgung begrenzt, steht die Beteiligung jedem Leistungserbringer im Rahmen der gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben offen. Für im Gesetz nicht vorgesehene Beschränkungen des Zugangs zur Versorgung ist deshalb kein Raum (BSG, Urteil vom 10.03.2010 – B 3 KR 26/08 R). Trifft eine Krankenkasse vorbereitende oder endgültige Auswahlentscheidungen unter konkurrierenden Leistungserbringern, ist dies demgemäß nur rechtmäßig, soweit sie erstens dem Grunde nach überhaupt zugelassen sind und zweitens im Einklang mit den jeweils maßgebenden Vorschriften des Leistungserbringungsrechts stehen (BSG, Urteil vom 10.03.2010 – B 3 KR 26/08 R). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Auch für das System der Arzneimittelversorgung gilt: Soll die vom Gesetz grundsätzlich für alle Apotheken, für die der Rahmenvertrag nach § 129 Abs. 2 SGB V Geltung besitzt, vorgesehene Teilnahme an der Versorgung gesetzlich Versicherter mit vertragsärztlich verordneten Arzneimitteln durch Einzelakt einer Krankenkasse auf einige wenige Apotheken beschränkt werden, bedarf es hierzu einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung. Eine solche fehlt aber bei § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB V. Die Beklagte ist daher nicht befugt, über Verträge nach § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB ein "exklusives" Versorgungssystem einzurichten. Sie ist nicht befugt, im Wege der Ausschreibung "Exklusivverträge" für die Versorgung ihrer Versicherten mit in Apotheken hergestellten streitgegenständlichen Arzneimitteln in der Onkologie abzuschließen. Der Vergütungsanspruch des Klägers für die Belieferung Versicherter mit Arzneimitteln richtet sich unmittelbar nach den dem öffentlichen Recht zuzuordnenden sozialrechtlichen Regelungen des Leistungserbringungsrechts (BSG, Urteil vom 28.09.2010 - B 1 KR 3/10 R). Nach § 129 SGB V geben die Apotheken nach Maßgabe der ergänzenden Rahmenvereinbarungen und Landesverträge (§ 129 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 SGB V, vgl. auch § 2 Abs. 2 Satz 3 SGB V) vertragsärztlich verordnete Arzneimittel an Versicherte der GKV ab. Die Kammer geht in Übereinstimmung mit dem 1. und 3. Senat des BSG (BSG, Urteil vom 28.09.2010 - B 1 KR 3/10 R und BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 3 KR 13/08 R) davon aus, dass § 129 SGB V im Zusammenspiel mit den konkretisierenden vertraglichen Vereinbarungen eine öffentlich-rechtliche Leistungsberechtigung und -verpflichtung für die Apotheken zur Abgabe von vertragsärztlich verordneten Arzneimitteln an die Versicherten begründet.

Darüber hinaus hat das Gericht erhebliche Zweifel daran, dass mit der von der Beklagten gewählten Konzeption langfristig überhaupt eine wirtschaftlichere Versorgung der Versicherten stattfinden kann. Soweit der Vortrag des Klägers zutrifft, dass die "Selektivvertrags"-Gestaltung in Hessen zu einer Monopolisierung der Versorgungssituation führt – was das Gericht für nicht fernliegend hält – so könnte sich die kurzfristige Erschließung einer Wirtschaftlichkeitsreserve unter diesen Voraussetzungen zukünftig ins Gegenteil umkehren. Das Gericht hat jedenfalls erhebliche Zweifel daran, dass die komplette Verdrängung von zahlreichen Marktteilnehmern, wozu die Auffassung der Beklagten zwangsläufig führen würde, dazu geeignet ist, eine langfristig wirtschaftlichere Versorgung sicherzustellen.

Anmerkung:

Diese Exklusivverträge stellen einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit des Apothekers dar, den der Apotheker nicht hinnehmen muss, weil das Gesetz (SGB V) eine solche Beschränkung der Abgabe von Arzneimitteln nicht ausdrücklich vorsieht. Überdies würden diese Exklusivverträge die Versorgung der Patienten gefährden.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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