(4.1.2017) Ist vor einer Halswirbelsäulen-Operation (Bandscheibenprothetik und Fusion) eine neurologische Untersuchung geboten und unterbleibt diese, ist die Operation nicht indiziert. Die Vornahme eines schwerwiegenden operativen Eingriffs ohne zuvor gesicherte Diagnose, kann als grober Behandlungsfehler zu werten sein. Vor einer Operation sind die Möglichkeiten der konservativen Behandlung, die weniger risikoreich ist, auszuschöpfen. Leidet die Patientin nach der Operation an einer Querschnittslähmung unterhalb des dritten Halswirbels, so rechtfertigt dies ein Schmerzensgeld von EUR 400.000 (OLG Hamm, Urteil vom 11. November 2016 – I-26 U 111/15). 

Röntgen-Aufnahmen der unteren Wirbelsäule - ein MRT wäre besser gewesenDer Fall:

Die 1960 geborene Klägerin litt als Krankenschwester über Jahre hinweg an Rückenschmerzen, vorwiegend im Bereich der Lendenwirbelsäule. Im November 2008 begab sie sich in die Behandlung des Orthopäden C, der eine radiologische Untersuchung der Lendenwirbelsäule veranlasste.

In der Zeit vom 15.12. bis 20.12.2008 begab sich die Klägerin in die stationäre Behandlung der Beklagten. Diese diagnostizierte nach entsprechender radiologischer Untersuchung bei der Klägerin ein radikulär pseudoradikuläres zervikales Schmerzsyndrom bei Osteochondrosen und Spondylarthrosen C4 bis 7 und Instabilität C3/4 mit konsekutiver Spinalkanalstenose, ein radikulär pseudoradikuläres lumbales Schmerzsyndrom bei produktiven Osteochondrosen und Spondylarthrosen L4 bis S1, eine ACG-Arthrose links sowie den Verdacht auf ein Thoracic-Outlet-Syndrom rechts. Am 06.01.2009 wurde extern ein MRT der HWS gefertigt. Ohne Bezugnahme auf dieses MRT empfahl die Beklagte in ihrem Bericht vom 30.01.2009 die ventrale Dekompression und Fusion der Halswirbel C4 bis 7 sowie die Implantation einer Bandscheibenprothese C 3/4. Der die Klägerin behandelnde Orthopäde C, dem der MRT-Befund vorlag, riet der Klägerin ebenfalls zu einer operativen Behandlung durch den chirurgischen Chefarzt Dr. N. 

Am 12.02.2009 führte die Klägerin ein präoperatives Gespräch zum Ablauf des geplanten Eingriffs mit dem Oberarzt der chirurgischen Abteilung, Dr. E. Am 10.03.2009 wurde die Klägerin stationär im Hause der Beklagten zur Durchführung der geplanten Implantation einer Bandscheibenprothese Typ 6 HWK 3/4 und einer Fusion HWK 4-7 mit Cage und Venture Verplattung aufgenommen. Die Ärzte Dr. N2 und Dr. L klärten die Klägerin am 10.03.2009 auf.

Der operative Eingriff wurde am 11.03.2009 durchgeführt. Es erfolgte die Implantation einer Bandscheibenprothese C3/4 sowie eine ventrale Fusion C4-7 mit Cage und Verplattung. Die Operation wurde von Dr. L geleitet, der Chefarzt Dr. N war während des Eingriffs zeitweise anwesend.

Im Anschluss an die Operation wurde die Klägerin auf die Intensivstation verlegt. Gegen 20:15 Uhr wurde eine zunehmende Schwäche aller vier Extremitäten festgestellt. Die Klägerin konnte nur noch den rechten Arm und die Zehen bewegen. Insbesondere hatte sie kein Empfindungsvermögen mehr.

Auch eine Revisionsoperation brachte keine Besserung mehr. Die Klägerin ist querschnittsgelähmt. 

Die Entscheidung:

  1. Die Lähmungserscheinungen im Bereich des Nackens und der oberen Extremität, unter denen die klagende Patientin vor der Operation litt, können nach Angabe des vom Gericht hinzugezogenen Sachverständigen durch einen raumfordernden Prozess ausgelöst sein, sie können aber auch durch einen zentralen Prozess wie eine Entzündung oder Degeneration ausgelöst werden. Es hätte danach differentialdiagnostisch durch einen Neurologen ausgeschlossen werden müssen, dass ein zentrales Geschehen vorliegt, um sicher zu sein, dass der Funktionsausfall eindeutig auf einer Einengung beruht. Erst dann kann die Indikation zur Operation gestellt werden. Diese differentialdioagnostische Voruntersuchung ist aber nicht durchgeführt worden von der beklagten Klinik. Es liegt damit ein Befunderhebungsfehler vor. 

  2. Ein gesonderter grober Behandlungsfehler ist weiterhin darin zu sehen, dass vor der Operation vom 11.03.2009 eine weitere präoperative Befunderhebung unterlassen worden ist. Es war ausweislich der Unterlagen der Beklagten zwischenzeitlich ein neuer neurologischer Befund bei der Klägerin aufgetreten mit Sensibilitätsstörungen im rechten Unterarm und der rechten Hand und einer Kraftgradminderung bzgl. des Trizeps und des Bizeps. Diesem Befund hätte man nach Angabe des Sachverständigen zwingend weiter durch Erstellung eines neuen MRT und Veranlassung einer erneuten neurologischen Untersuchung nachgehen müssen. Dabei ist insbesondere die differentialdiagnostische neurologische Untersuchung zum Ausschluss anderer neurologischer Erkrankungen erforderlich gewesen. Beide Untersuchungen waren danach für die Stellung der Operationsindikation zwingend erforderlich.

  3. Schließlich hat sich bestätigt, dass auch die von den Ärzten der Beklagten gewählte Operationsmethode aus zwei Gründen kontraindiziert gewesen ist. Da vorliegend eine Fusion der Etagen C4-C7 durchgeführt und eine Bandscheibenprothese in das angrenzende Bandscheibenfach C3/4 implantiert worden ist, hat zum einen die Kontraindikation bestanden, dass mehr als drei Etagen operativ behandelt werden mussten und zum anderen, dass in unmittelbarer Nachbarschaft an das Bandscheibenfach C3/4 eine Wirbelsäulenfusion angrenzte.Der Sachverständige hat nachvollziehbar begründet, dass durch eine Fusion eine erhöhte Belastung der Nachbarsegmente eintritt, wodurch die Prothese sodann einer erhöhten biomechanischen Belastung unterworfen wird, was die Gefahr einer verfrühten Prothesenlockerung deutlich erhöht. Eine unmittelbar an das für die Bandscheibenimplantation vorgesehene Bandscheibenfach angrenzende zervikale Fusion stellt danach eine Kontraindikation dar, wobei nach den Ausführungen des Sachverständigen bereits 2008 bekannt gewesen ist, dass eine teilweise Versteifung zu einer Überlastung der beweglichen Nachbarsegmente führt. Als weitere Kontraindikation gilt die Notwendigkeit, mehr als drei Bandscheibenetagen zu behandeln. Insgesamt hat der Sachverständige die Implantation einer Bandscheibenprothese oberhalb einer angrenzenden 3-Etagen-Fusion als nicht mehr nachvollziehbar bezeichnet. Man hätte seinen Angaben nach im Falle der Klägerin notfalls den Bereich C3/4 mit versteifen müssen, soweit nicht bereits die Versteifung C4-7 ausreichend gewesen wäre. Allein hierdurch wäre dann eine regelgerechte Biomechanik gewährleistet worden. 

  4. Weiterhin bestand bei der Klägerin im Dezember 2008 nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme allenfalls eine relative OP-Indikation, weil keine motorischen Lähmungen vorlagen. Bei zervikalen Bandscheibenvorfällen müssen operative Maßnahmen individuell abgewogen werden, da in vielen Fällen eine konservative Behandlung gleichfalls erfolgversprechend ist. Nachdem das vom Sachverständigen geforderte Gespräch über die Möglichkeit des Zuwartens und Weiterführens der konservativen Behandlung nicht stattgefunden hat, ergibt sich hieraus der Vorwurf unzureichender Aufklärung über Behandlungsalternativen.

Praxisanmerkung:

Die Patientin wurde vorschnell und ohne gesicherte Diagnostik einer schweren Operation unterzogen. Je schwerwiegender die Operation und je größer die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken für den Patienten, umso eher ist dem operierenden Arzt zu raten, eine sehr umfassende, ja im Zweifel überdeutliche Diagnostik zu betreiben. Es ist dann auch der sicherste Weg, eigene Diagnostik zu betreiben und sich nicht auf Vorbefunde anderer Kollegen zu verlassen. 

Auch sollten zuerst die Möglichkeiten der konservativen Behandlung ausgeschöpft werden. Da operiernde Ärzte nichts an konservativen Behandlungen verdienen, klären sie häufig auch nicht darüber auf. Den Patienten ist zu raten, sich selbst über Möglichkeiten der konservativen (nicht-operativen) Behandlung zu informieren und vor allem den behandelnden niedergelassenen Arzt ausführlich darüber zu befragen. Jedem Patienten sollte klar sein, dass orthopädische Beschwerden sehr häufig mit der Balance im Muskel-Skelett-System zusammenhängen - dann bringt es oft nur zeitweilige Linderung, wenn man die Wirbelsäule versteift oder Bandscheibenteile entfernt, wenn die Beschwerden auf Muskelschwächen oder muskulären Dysbalancen beruhen.

Hier ist allerdings auch zu beobachten, dass viele Patienten lieber (schnell) operiert werden wollen als den (mühsamen und langwierigen) Weg einer umfassenden Behandlung der Ursachen der Beschwerden zu gehen, sprich den eigenen Lebensstil umzustellen, mehr Sport zu treiben und eine langfristige physiotherpautische Behandlung zu beginnen.   

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
Vertretung und Beratung im Medizinrecht und Arztrecht
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