(23.2.17) Auch wenn ein kurz vor einer frühzeitigen Geburt stehendes Kind (vollständiger Fruchtwasserabgang in der 23. Kalenderwoche bei manifestem Amnioninfektionssyndrom (AIS) und Chorioamnionitis) nur geringe Überlebensaussichten hat, ist die Mutter von den behandelnden Klinikärzten über die Möglichkeit aufzuklären, lebenserhaltende Maßnahmen durchzuführen, auch wenn ein Überleben des Kindes unwahrscheinlich war. Wird die Mutter dagegen lediglich aufgeklärt über die (weiteren) Möglichkeiten des sofortigen Abbruchs der Schwangerschaft (ohne lebenserhaltende Maßnahmen) oder ein abwartendes Verhalten unter Antibiose mit dem Ziel, die 24. Schwangerschaftswoche zu erreichen, liegt ein Aufklärungsfehler vor, der zu einem Schmerzensgeldanspruch von EUR 15.000 führt (LG Köln, Urteil vom 29. Juni 2016 – 25 O 424/10).

gesundes NeugeborenesDer Fall:

Die damals sechsundreißigjährige Schwangere (Klägerin) erlitt in der 11. Schwangerschaftswoche (SSW) nach einer Chlamydieninfektion starke Blutungen, weswegen sie sich vom 16. bis 19.03.2007 erstmals in das Krankenhaus Y begab. In der Folgezeit hatte sie wiederholt schmerzhafte Kontraktionen. Ende Mai 2007 war die Klägerin stark erkältet und hatte vermehrt Unterleibskrämpfe. 

Am 11.06.2007 kam es zu Fruchtwasserabgang, weswegen die Klägerin mit dem Krankenwagen gegen 9.40 Uhr in das Krankenhaus Y eingeliefert wurde. Fruchtwasser war kaum noch nachweisbar (Anhydramnie), der CRP-Wert lag bei 56,2, die Leukozytenzahl bei 10.400. Mit Ultraschall vom 12.06.2007 wurde das Stadium der Schwangerschaft mit SSW 22+3 und das geschätzte Gewicht ermittelt. Die Klägerin erhielt Valium zur Beruhigung.

Auf Wunsch der Klägerin und ihres Lebensgefährten wurde ein Kinderarzt hinzugezogen, der mit der Klägerin und ihrem Lebensgefährten sprach. In der Klinik der Beklagten zu 3) gab es damals eine interne Anweisung, dass lebensrettende bzw. lebenserhaltende Maßnahmen erst ab Vollendung der 23. SSW (d.h. ab SSW 23+1) durchgeführt werden sollten.

Am 13.06.2007 kam es um 03.43 Uhr zur spontanen Geburt einer 460 g schweren Tochter aus Beckenendlage; der APGAR-Wert betrug 2-2-2; es wurde eine Schnappatmung festgestellt und u.a dokumentiert: "Leichenflecken, extreme Unreife, Bradykardie". Um 04.37 Uhr verstarb das Kind ohne vorherige Abnabelung. Ein Kinderarzt wurde postpartal nicht hinzugezogen. Die histopathologische Untersuchung ergab eine normgewichtige altersentsprechende Plazenta der 22+5 SSW (d.h. 23. SSW) mit manifestem Amnioninfektionssyndrom (AIS) und Chorioamnionitis entsprechend einer aszendivierenden Infektion nach vorzeitigem Blasensprung.

Die Klägerin macht u.a. geltend, sie sei bei dem Gespräch am 12.6. nicht über die Möglichkeit aufgeklärt worden, lebenserhaltende Maßnahmen durchzuführen, d.h. zu versuchen, das Kind nach der Frühgeburt künstlich am Leben zu erhalten. Es sei über ihren Kopf hinweg entschieden worden, solche Maßnahmen nicht durchzuführen. 

Die Entscheidung:

Das Landgericht Köln gab der Mutter insofern Recht und sprach ihr ein Schmerzensgeld von EUR 15.000 zu. 

Der gynäkologische Sachverständige Prof. Dr. C - auf dessen Einschätzung es im Hinblick auf die Frage nach einem fehlerhaften Vorgehen nach dem Grundsatz der fachgleichen Begutachtung entscheidend ankommt - hat in seiner mündlichen Anhörung überzeugend ausgeführt, dass im Jahr 2007 ein gemeinsames Gespräch zwischen den Eltern bzw. der Mutter des noch ungeborenen Kindes, dem Geburtshelfer und einem Neonatologen Behandlungsstandard in einem Perinatalzentrum gewesen sei. Der neonatologische Sachverständige Prof. Dr. Krüger hat ein solches Gespräch ebenfalls für geboten gehalten, es hingegen nicht als Standard bezeichnet. Selbst wenn angesichts insgesamt kleiner Fallzahlen bei der Frage, inwieweit eine solche Einbeziehung zu erfolgen hat, von einem medizinischen "Standard", wie in anderen Bereichen der Medizin, nicht gesprochen werden kann, so stellt u.a. die "Gemeinsame Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin und Deutschen Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin" zur "Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes" (Stand: 2006) eine Richtungsweisung dar. Hieraus ergibt sich - als Empfehlung -, dass die Eltern in den Entscheidungsprozess einzubeziehen sind und zu diesem Zweck Geburtshelfer und Kinderärzte für Gespräche zur Verfügung stehen. Hinzu tritt das in Art. 6 Abs. 2 GG bzw. § 1626 BGB verbürgte Recht, aber auch die Pflicht der Mutter bzw. der Eltern, für ihr un- bzw. neugeborenes Kind Sorge zu tragen und ggf. Entscheidungen in dessen wohlverstandenem Interesse zu treffen.

Vor diesem Hintergrund ist es aus Sicht des Landgerichts unzureichend, wenn Ärzte die fragliche Entscheidung ohne Einbeziehung der Eltern treffen und die Eltern hierüber nur in Kenntnis setzen. Dies wäre nur dann anders, wenn ein lebenserhaltendes Vorgehen in jedem Falle aussichtslos wäre; hiervon konnte indes auch im Jahr 2007 nicht generell ausgegangen werden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war ein Überleben der Tochter der Klägerin zwar unwahrscheinlich, aber auch (ggf. mit schwersten Schädigungen) nicht ausgeschlossen.

Um den Eltern und insbesondere der Mutter zu ermöglichen, am Prozess der Entscheidungsfindung für oder gegen lebenserhaltende Maßnahmen bei einer Geburt vor 23+1 SSW teilzuhaben, bedarf es ausreichender Information über die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen ärztlichen Handelns in dieser besonderen Situation.

Diese Anforderungen wurden im Haus der Beklagten zu 3) nicht gewahrt. Leitliniengerecht wäre ein gemeinsames Gespräch unter gleichzeitiger Einbeziehung und Führung durch Geburtshelfer und Neonatologen gewesen. Ein solches Gespräch hätte nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. C auch dokumentiert werden müssen. Unstreitig hat der Beklagte zu 2) der Klägerin lediglich folgende Optionen zur Wahl gestellt: einen sofortigen Abbruch der Schwangerschaft (ohne lebenserhaltende Maßnahmen) oder ein abwartendes Verhalten unter Antibiose mit dem Ziel, die 24. Schwangerschaftswoche zu erreichen. Dass der Klägerin die Möglichkeit der Durchführung lebenserhaltender Maßnahmen für ihr Kind vorgestellt worden wären für den Fall, dass es vor 23+1 SSW geboren werden sollte (mit allen Risiken und - wenn auch geringen - Chancen) haben die Beklagten zu 2) und 3) nicht hinreichend substantiiert vorgetragen.

Praxishinweis:

Auch die voraussichtliche geringe Wahrscheinlichkeit eines Überlebens des noch überaus unreifen und an einer Sepsis leidenden Kindes ändert nichts daran, dass der Arzt die Mutter bdarüber aufklären muss, dass es zumindest die Möglichkeit gibt, lebenserhaltende Maßnahmen durchzuführen. Dann muss er aber sogleich (auch) darüber aufklären, dass bei einem Überleben das Risiko besteht, dass das Kind schwerstbehindert wird. All dies muss er auch noch schnell dokumentieren (dabei sind kurze, handschriftliche Vermerke (auch in Form von Abkürzungen) in der Behandlungsakte ausreichend aber auch dringend anzuraten).

Der Arzt darf hier also im Ergebnis nicht vorab selbst eine Risikoprognose treffen, ohne die Mutter entscheiden und lebenserhaltende Maßnahmen ausklammern. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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