(27.2.17) Ein Narkosearzt, der zur kurzfristigen Vertretung bei Engpässen als Honorararzt in einer Klinik tätig ist und dabei im regelhaften stationären Krankenhausbetrieb bei vorausgeplanten Operationen als verantwortlicher Anästhesist auf Stundenlohnbasis tätig ist, ist als abhängig beschäftigt anzusehen, wenn er dabei kein wirtschaftliches Risiko übernommen hat (Sozialgericht Kassel, Urteil vom 11. Januar 2017 – S 12 KR 448/15).

Urteil über die Sozialversicherungspflicht eines AnästhesistenZusammenfassung:

Maßgeblich war, dass

  • dass die Vergütung des Arztes insgesamt nicht erfolgsbezogen war, da er stundenweise entlohnt wurde und lediglich seine Arbeitskraft schuldete 
  • der Arzt hat kein eigenes Kapital oder etwa die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes (Ausfallrisiko) eingesetzt
  • der Arzt war in die hierarchischen Strukturen und Arbeitsabläufe der Klinik eingegliedert (sog. Einbindung in den Betrieb) - dass er sich den Operationssaal aussuchen durfte, ist insofern irrelevant 

Irrelevant waren dagegen folgende Punkte:

  • die Überbürdung des Risikos, bei krankheits- oder urlaubsbedingten Ausfällen kein Entgelt zu erhalten - denn dem stand nicht (wie bei einem Unternehmer) spiegelbildlich die Aussicht auf höhere Gewinne gegenüber 
  • das Recht des Arztes einzelne "Aufträge" abzulehnen - denn das gibt es auch bei Arbeitnehmern

Im Einzelnen:

Unter Anwendung der Grundsätze (des § 7 SGB IV) hat die beklagte Rentenversicherung zur Überzeugung der Kammer das Vorliegen einer versicherungs- und im beanspruchten Umfang auch beitragspflichtigen abhängigen Beschäftigung auf Seiten des Klägers in den hier streitigen Zeiträumen rechtsfehlerfrei bejaht.

Zwar geht auch die Kammer davon aus, dass der Kläger im Rahmen der ihm übertragenen bzw. von ihm übernommenen Aufgaben im täglichen Dienstbetrieb, seine konkrete ärztliche Arbeit betreffend, umfangreiche eigene Entscheidungsspielräume gehabt hat; dies ist jedoch der täglichen Arbeit eines Arztes im Klinikbetrieb nicht zuletzt auf der Grundlage der Ausübung seiner Tätigkeit in einem Heilberuf aber geradezu immanent und vermag somit für sich noch keine selbstständige Tätigkeit zu begründen, da - wie ausgeführt - allein selbstständiges Arbeiten eben gerade noch keine selbstständige, sozialversicherungsfreie Tätigkeit beinhaltet. Hier kann mit den weiteren Ausführungen und über die bereits von der Beklagten angeführten, ebenfalls für das Vorliegen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse sprechenden Umstände hinaus z.B. nämlich auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Vergütung des Klägers insgesamt nicht erfolgsbezogen war und er letztlich auch kein eigenes Kapital einzusetzen hatte, wobei insbesondere auch und gerade der (Arbeits-​)Einsatz mit dem BSG dem Wagniskapital eines Unternehmers nicht gleichgesetzt werden kann, ein wirtschaftliches Unternehmerrisiko als mitentscheidendes Indiz für das Vorliegen einer selbstständigen Tätigkeit auf Seiten des Klägers zur Überzeugung der Kammer mit der Beklagten also nicht vorlag.

Dabei sei zu letzterem noch weiter ausgeführt, dass nach der ständigen sozialgerichtlichen Rechtsprechung maßgebliches Kriterium für ein Unternehmerrisiko gerade ist, ob eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird, der Erfolg des Einsatzes der sächlichen oder persönlichen Mittel also ungewiss ist (vgl. BSG SozR 3-​2400 § 7 Nr. 13 mwN). Bereits aus dem eigenen Vortrag der Klägerin und des Klägers ergibt sich aber nicht, dass der Erfolg des Einsatzes der Arbeitskraft des Klägers für die von der Klägerin betriebene Klinik ungewiss war. Denn dieser schuldete eben "nur" den Einsatz seiner Arbeitskraft. D.h., mit der Übernahme der hier streitigen Tätigkeiten für die Klägerin, worauf allein abzustellen ist, ist der Kläger bereits kein unternehmertypisches wirtschaftliches Risiko eingegangen.

Selbst eine - wie auch hier vorliegende - Überbürdung des Risikos, bei krankheits- oder urlaubsbedingten Ausfällen kein Entgelt zu erhalten, spricht nur dann für Selbstständigkeit, wenn dem auch eine größere Unabhängigkeit oder höhere Verdienstchancen gegenüberstehen, wovon hier jedoch nicht ausgegangen werden kann (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 19. August 2003, a.a.O.; LSG Baden-​Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2008, a.a.O.).

Letztlich hat der Kläger mit seiner Tätigkeit für die Klägerin nach alledem in erster Linie deren wirtschaftlichen Interessen - wie im Übrigen auch die rechtswidrige Verlagerung eines Teils möglicher rückwirkender Beitragslasten auf den Kläger in § 2 des o.a. Vertrages zeigt - gedient und damit, auch und gerade wirtschaftlich betrachtet, seine Tätigkeit nicht wie für ein eigenes, sondern wie für ein fremdes Unternehmen ausgeübt, was eine vom o.a. Regelfall abweichende Beurteilung mit der Beklagten zumindest in der vorliegenden Fallgestaltung nicht zulässt.

Insoweit können die Klägerin und der Kläger schließlich und vor allem auch nicht erfolgreich einwenden, es habe keine persönliche Abhängigkeit, und kein umfassendes Weisungsrecht der Klägerin hinsichtlich Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung und auch keine Eingliederung in deren Betrieb gegeben.

Für eine Einbindung in den Betrieb spricht neben deren eigenem, nahezu wortgleichen vorgerichtlichen Vortrag zur tatsächlichen Ausgestaltung der Tätigkeit, wonach der Kläger im regelhaften Krankenhausbetrieb im normalen Tagesgeschäft eines Narkosearztes weit überwiegend im Operationssaal bei vorausgeplanten Operationen als verantwortlicher Anästhesist tätig geworden ist, bereits die Tatsache, dass dessen Verfügungsmöglichkeiten über seine eigene Arbeitskraft im alltäglichen Klinikbetrieb, in denen er als Anästhesist krankenhaustypisch tatsächlich eingesetzt worden ist, deutlich eingeschränkt war, auch wenn er sich den "Operationssaal", in dem er tätig geworden ist, hat "aussuchen" dürfen. Die weitere Möglichkeit, "Aufträge" anzunehmen oder abzulehnen, gilt ebenso zwar grundsätzlich als Indiz für das Vorliegen einer selbstständigen Tätigkeit. Doch sind auch im Rahmen abhängiger Beschäftigungsverhältnisse Vertragsgestaltungen nicht unüblich, die es weitgehend dem Arbeitnehmer überlassen, ob er im Einzelfall solche Aufträge annimmt oder nicht.  

Anmerkung:

Prägend für den Selbständigen ist, dass er etwas riskiert. Dies war hier nicht der Fall.

Und Selbständige genießen ein hohes Maß an Freiheit in der Ausführung ihrer Arbeit. Dies ist bei einem OP-Anästhesisten im Klinikbetrieb schwerlich denkbar, weil seine Bewegungsfreiheit angesichts der Dienst- und OP-Pläne stark eingeschränkt ist. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
Vertretung und Beratung im Medizinrecht und Arztrecht
Witzlebenstraße 3 - 14057 Berlin - Tel: (030) 536 47 749
E-mail: mail@christmann-law.de