(11.7.2017) Haben Ärzte offiziell in Praxisgemeinschaft gearbeitet, tatsächlich aber einen Gemeinschaftspraxisvertrag geschlossen und auch gelebt, so steht fest, dass sie in Gemeinschaftspraxis gearbeitet und nur nach außen das Bild einer Praxisgemeinschaft erweckt haben und die sie betreffenden Honorarbescheide sind zu berichtigen. Dann kommt es nicht mehr darauf an, ob ein bestimmter Mindestanteil von Patienten vorliegt, die von beiden Ärzten gemeinsam behandelt worden sind (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25. Januar 2017 – L 3 KA 16/14).

AbrechnungsunterlagenDer Fall:

Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. sind miteinander verheiratet und als Fachärzte für HNO-Heilkunde zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Sie waren bis 30.09.1996 gemeinsam mit dem Vater der Kläger zu 2. in Gemeinschaftspraxis tätig. Zum 01.10.1996 schied die Klägerin zu 2. aus der Gemeinschaftspraxis aus; der beklagten KV wurde mitgeteilt, zwischen ihr und der im Übrigen weiterbestehenden Gemeinschaftspraxis bestehe nunmehr eine Praxisgemeinschaft. Zum 01.01.1999 verließ der Vater der Kläger zu 2. die Gemeinschaftspraxis und wurde durch die HNO-Ärztin H. ersetzt. Ab 2003 trat die Kläger zu 2. wieder als Mitglied der Gemeinschaftspraxis auf, die nach dem Ausscheiden der Ärztin H. zum Ende des 3. Quartals 2004 zwischen den Klägern fortgeführt wird.

1996 schlossen die Ärzte einen "Vertrag über die Errichtung einer Gemeinschaftspraxis“. Der Vertrag sah u.a. vor, dass dass im Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters möglichst versucht werden soll, mit diesem eine Praxisgemeinschaft zu betreiben. Im übrigen beinhaltet der Vertrag Regelungen, die nur für eine Gemeinschaftspraxis, nicht aber für eine Praxisgemeinschaft Sinn ergeben. Die Sprechzeiten der Ärzte waren so aufeinander abgestimmt, dass sie in der Regel nicht zur selben Zeit anwesend waren. Die Patienten wurden nicht darauf hingewiesen, dass eine Praxisgemeinschaft vorliegt. In der Folge wurden bis zu 768 Patienten pro Quartal gemeinsam behandelt, was - je nach Betrachtungsweise - einem gemeinsam behandelten Patientenanteil von rund 50 bzw. 30 % entsprach. Die Chipkarten der gemeinsam behandelten Patienten wurden jeweils gleichzeitig bei beiden Ärzten eingelesen.

Dem von der KV erhobenen Vorwurf der künstlichen Erhöhung der Behandlungsfälle und Missbrauch der Gestaltungsform der Gemeinschaftspraxis traten die Ärzte mit zahllosen Ausflüchten entgegen, u.a., dass sie den Begriff der Gemeinschaftspraxis in dem Vertrag versehentlich falsch verwendet hätten.

Die Entscheidung:

Das Landessozialgericht wies die Klage der Ärzte gegen den Rückforderungsbescheid ab.

Auf die Frage der Zahl der gemeinsam behandelten Patienten - die üblicherweise von den KVen als Aufgreifkriterium für eine verdeckte Gemeinschaftspraxis genutzt werden - geht das LSG nur einleitend ein, stellt dann aber ganz maßgeblich auf die verwendete vertragliche Formulierung ab, die eindeutig von einer Gemeinschaftspraxis spreche. Auch die gelebte tägliche Arbeit deute klar auf eine Gemeinschaftspraxis hin. Die Patienten seien wie in einer Gemeinschaftspraxis behandelt worden. Den Einwand einer versehentlichen Falschbezeichnung ließ das Gericht nicht gelten - zu offensichtlich war, dass der Vertrag willentlich auf eine Gemeinschaftspraxis zugeschnitten war. Auch den vielen weiteren Einwendungen erteilte das Gericht eine teils pointierte Absage.

Praxishinweis:

Besondere Aufmerksamkeit verdienen zwei Auffassungen des LSG, die wegen des Vorliegens des Gemeinschaftspraxisvertrages nicht entscheidungserheblich waren:

Das LSG ist - unter Bezugnahme auf (zum 1. Januar 2005) in Kraft getretenen Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Krankenkassen zum Inhalt und zur Durchführung der Abrechnungsprüfungen der KVen und der Krankenkassen gemäß § 106a Abs. 6 S 1 SGB V (AbrPr-RL) der Meinung, dass eine Abrechnungsauffälligkeit bei der Überschreitung eines Grenzwerts von (bereits) 20 % Patientenidentität zu vermuten ist.

Das LSG stellt weiter fest, dass die Orientierungswerte, ab denen man von einer auffälligen Patientenidentität spricht, zu modifizieren sind, wenn das Behandlungsverhalten einer (als solche auftretenden) Praxisgemeinschaft zu untersuchen ist, die aus einer Einzelpraxis und einer Gemeinschaftspraxis besteht. Da das Praxisgemeinschaftselement „Gemeinschaftspraxis“ regelmäßig deutlich mehr Patienten als die Einzelpraxis betreut, können auch Werte von unter 20 % gemeinsam behandelter Patienten bei der Gemeinschaftspraxis ausreichen, um einen Rechtsformmißbrauch und damit eine sachlich-rechnerische Berichtigung zu rechtfertigen. Mithin kann jede Patientenidentität von über 15% aber noch unter 20% für einen Regress herangezogen werden. Dies ist bei der Vertragsgestaltung zu beachten.

Die Behandlung eines Patienten in einem Quartal durch verschiedene Mitglieder einer Gemeinschaftspraxis stellt sich als ein einziger Behandlungsfall dar. Das künstliche Vermehren dieser Leistungen durch Aufbau einer scheinbaren Praxisgemeinschaft ist nicht erlaubt.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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