(13.10.2017) Die Durchführung von Schutzimpfungen stellt keine alltägliche Angelegenheit dar, welche in die Entscheidungsbefugnis des Elternteils fällt, bei dem sich das Kind aufhält, sondern ist eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung für das Kind, der entweder beide Eltern zustimmen oder es bedarf einer Entscheidung des Familiengerichts. Die Impfempfehlungen der STIKO sind medizinischer Standard. Der Nutzen der jeweils empfohlenen Impfung überwiegt regelmäßig das Impfrisiko (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 3. Mai 2017 - XII ZB 157/16).

Diphterie BakterienDer Fall:

Die getrennt lebenden Eltern streiten um die Schutzimpfung ihrer gemeinsamen, 2012 geborenen Tochter. Während der Vater die Tochter gemäß den STIKO-Empfehlungen impfen lassen wollte, war die Mutter nur dann mit Impfungen einverstanden, wenn ärztlicherseits Impfschäden mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnten.

Das Amtsgericht Erfurt hatte dem Vater das Entscheidungsrecht über die Durchführung von Impfungen generell übertragen, das Oberlandesgericht Jena bestätigte diese Entscheidung, allerdings beschränkt auf die von der STIKO empfohlenen Schutzimpfungen (Tetanus, Diphterie, Pertussis, Pneumokokken, Rotaviren, Meningokokken C, Masern, Mumps und Röteln).

Die Entscheidung:

Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung des Oberlandesgerichts Jena bestätigt.

Bei Impfungen handele es sich bereits nicht um Entscheidungen, die als Alltagsangelegenheiten häufig vorkommen. Die Entscheidung, ob das Kind während der Minderjährigkeit gegen eine bestimmte Infektionskrankheit geimpft werden soll, falle im Gegensatz zu Angelegenheiten des täglichen Lebens regelmäßig nur einmal an. Sowohl das durch eine Impfung vermeidbare und mit möglichen Komplikationen verbundene Infektionsrisiko als auch das Risiko einer Impfschädigung belegten die erhebliche Bedeutung.

Impfungen dienten nach § 1 Infektionsschutzgesetz dem Wohl des Einzelnen im Hinblick auf eine mögliche Erkrankung und in Bezug auf die Gefahr einer Weiterverbreitung dem Gemeinwohl. Auch mit dem letztgenannten Aspekt hätten sie einen Bezug zum Schutz des individuellen Kindeswohls, weil das Kind - wenn es etwa noch nicht im impffähigen Alter ist - von der Impfung anderer Menschen, insbesondere anderer Kinder, und der damit gesenkten Infektionsgefahr profitiere.

Das OLG habe den Vater mit Recht als besser geeignet angesehen, um über die Durchführung der aufgezählten Impfungen des Kindes zu entscheiden. Es habe hierfür in zulässiger Weise darauf abgestellt, dass der Vater seine Haltung an den Empfehlungen der STIKO orientiert. Die Impfempfehlungen der STIKO sind vom Bundesgerichtshof bereits als medizinischer Standard anerkannt worden. Da keine einschlägigen Einzelfallumstände wie etwa bei dem Kind bestehende besondere Impfrisiken vorlägen, habe das OLG auf die Impfempfehlungen als vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen können.

Die von der Mutter erhobenen Vorbehalte, die aus ihrer Befürchtung einer "unheilvollen Lobbyarbeit von Pharmaindustrie und der Ärzteschaft" resultieren, habe das OLG dagegen nicht zum Anlass für die Einholung eines gesonderten Sachverständigengutachtens über allgemeine Impfrisiken nehmen müssen.

Praxishinweis:

Die Entscheidung über eine Impfung kann ein Elternteil nicht alleine treffen, wenn beide Eltern sorgeberechtigt sind (was der Regelfall ist). Da Impfungen, wie der BGH klarstellte, keine Alltagsangelegenheiten bzw. Routinefälle sind, muss sich der Arzt vergewissern, ob der erschienene Elternteil die Ermächtigung des anderen Elternteils hat und wie weit diese reicht. Dabei darf er aber - bis zum Vorliegen entgegenstehender Umstände - davon ausgehen, vom erschienenen Elternteil eine wahrheitsgemäße Auskunft zu erhalten (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 16.11.2015 - 26 U 1/15). Nur in den Fällen, in denen dem Arzt positiv bekannt ist, dass die Eltern unterschiedlicher Auffassung sind, z.B. bei Impfungen, kann er nicht darauf vertrauen, dass der anwesende Elternteil von dem anderen Elternteil bevollmächtigt wurde.

Es empfiehlt sich, dass der Arzt den anwesenden Elternteil sorgsam aufklärt über Risiken und Nutzen der Schutzimpfung und dies dokumentiert. Weiter sollte der Arzt um Zustimmung des abwesenden Elternteils bitten, entweder in Gestalt eines kurzen schriftlichen Briefes, eines Anrufes oder Anwesenheit bei der Impfung. Auch diese Umstände sind zu dokumentieren. Zeigt sich dann, dass der andere Elternteil keine Impfung will, so ist es für den Arzt der sicherste Weg, das Kind vorerst nicht zu impfen und die Gründe ebenfalls in Stichworten zu dokumentieren. Der Arzt sollte den anwesenden Elternteil bitten, sich mit dem anderen Teil zu einigen oder eine Entscheidung des Familiengerichtes nach § 1628 Satz 1 BGB herbeizuführen (KG Berlin, Beschluß vom 18.5.2005 - 13 UF 12/05). Auch dieser Hinweis sollte dokumentiert werden. Im Übrigen kann sich der Arzt aus dem Streit der Eltern heraushalten, da ungeimpfte Kinder sich nicht in einer behandlungsbedürftigen Notlage befinden, mithin der Arzt nicht verpflichtet ist, das Kind gegen den Willen eines Elternteils zu impfen.

Impft der Arzt trotz fehlender Zustimmung des abwesenden Elternteils, so ist die Aufklärung des abwesenden Elternteils mangelhaft und der Arzt kann sich Arzthaftungsansprüchen wegen fehlerhafter Aufklärung ausgesetzt sehen (vgl. BGH, Urteil vom 15.6.2010 - VI ZR 204/09).

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs gibt denjenigen Kinderärzten, die den STIKO-Impfempfehlungen folgen wollen, Rückendeckung. Der BGH weist mit seiner Entscheidung zugleich die allgemeinen Vorbehalte, die von impfunwilligen Eltern vorgebracht werden zurück, solange sie weder konkret untermauert sind noch einen Bezug zum konkreten Kind haben. Eltern, die sich unsicher sind, ob sie ihr Kind impfen lassen wollen, kann die Entscheidung des höchsten deutschen Zivilgerichtes eine Entscheidungshilfe geben.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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