(26.10.2017) Unzulässig sind Werbeaussagen über eine Studie zur Anwendung eines Netzhaut-​Chips (sog. Retina Implantate, die in das Auge eingesetzt werden und die Funktion abgestorbener Sehzellen übernehmen und eine Seh-​Wahrnehmung ermöglichen sollen), die suggerieren, das System könne das Sehvermögen wieder herstellen, wenn dies in der Studie erst geprüft werden soll (Landgericht Hamburg, Urteil vom 19. April 2016 – 416 HKO 17/16).

Auge ohne ImplantatAbstract:

Mittels einer Werbeanzeige in einer Zeitschrift für sehbehinderte Menschen suchte der Hersteller eines neuen Netzhaut-Chips (I.® System, ein Medizinprodukt nach dem Medizinproduktegesetz) nach Teilnehmern an einer Studie zur Erprobung des Chips. Dabei bewarb er das Produkt aber zu überschwänglich, woran sich ein Konkurrent störte, der auf Unterlassung klagte und damit Erfolg hatte: Folgende Werbeaussagen sind wegen Irreführung des Lesers nach § 8 UWG, § 3 HWG unzulässig und zu unterlassen:

  • dass das I.® System das Sehvermögen wieder herstellen könne
  • dass das I.® System ein technisch weiterentwickeltes System sei
  • dass es sich um ein "intelligentes" Retina Implantat System handele

weil dadurch Dinge vorgegeben werden, die tatsächlich gerade erst durch die geplante Studie überprüft werden sollen.

Praxisanmerkung:

Studien werden immer wieder (auch) zu Werbezwecken eingesetzt. Im Bereich der Werbung für die Teilnahme an medizinische Studien ist dies aber unzulässig, weil dem Teilnehmer einer Studie klar sein muss, dass er sich auf ein Experiment einlässt mit ungewissem Ausgang und Risiken. Verschleiert der Hersteller diesen experimentellen Charakter, so enthält er dem Teilnehmer wichtige Informationen vor, die dieser benötigt, um sachgerecht über die Risiken und Vorteile der Teilnahme entscheiden zu können.   

Auch das Werben mit Ergebnissen medizinischer Studien ist häufig anzutreffen. Allerdings ist auch dies nicht ohne weiteres möglich. Grundsätzlich müssen Studien so präzise zitiert werden, dass der Adressat der Werbung alle Informationen erhält, die notwendig sind, um die Studie zu recherchieren und sich auf diese Weise ein Bild "aus erster Hand" von deren Inhalt machen zu können (§ 6 Nr. 2 HWG). 

Die Entscheidung im Volltext:

Tenor

  1. Die einstweilige Verfügung des Landgerichts Hamburg vom 12.01.2016 (Az: 312 O 523/15) wird hinsichtlich Ziffer I. bestätigt.
  2. Im Übrigen wird die einstweilige Verfügung aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird insoweit zurückgewiesen.
  3. Von den Kosten des Verfügungsverfahrens haben die Antragstellerin 20 % und die Antragsgegnerin 80 % zu tragen.

Tatbestand

Das Verfügungsverfahren betrifft heilmittel-​/wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche, welche die Antragstellerin in Bezug auf eine von der Antragsgegnerin veröffentliche Werbeanzeige geltend macht. Dabei wendet sich die Antragstellerin sowohl gegen einzelne Werbeaussagen als auch gegen die mit der Anzeige angestrebte Rekrutierung von Patienten für die beworbene Studie, ohne dass die Anzeige zuvor der Ethikkommission zur Prüfung vorgelegt wurde.

Beide Parteien bieten Behandlungsmethoden für Blinde an, deren Rezeptorzellen der Netzhaut (Retina) krankheitsbedingt ihre Funktion verloren haben, deren Sehnerv aber noch eine intakte Verbindung zum Gehirn bildet. Bei diesen Patienten kann ein Netzhaut-​Chip (Retina Implantat) - ein Medizinprodukt der höchsten Risikoklasse - eingesetzt werden, welcher die Funktion der abgestorbenen Sehzellen übernimmt und eine Seh-​Wahrnehmung ermöglicht. Die Antragstellerin vertreibt das A.® II Retinaprothesensystem, welches eine CE-​Kennzeichnung besitzt. Die Antragsgegnerin hat das I.® System entwickelt, welches gegenwärtig in einer klinischen Studie erprobt wird und noch nicht CE-​zertifiziert ist.

Die Antragstellerin wendet sich gegen eine Anzeige der Antragsgegnerin in der Broschüre „P. r.“, Ausgabe 10/15, welche das I.® System sowie eine Studie zu dessen Erprobung zum Inhalt hat, wobei auf die genaue Ausgestaltung der Anzeige Bezug genommen wird (Anl. A = ASt 7). Herausgeber der Zeitschrift ist die P. R. Deutschland e.V., eine gemeinnützige Selbsthilfe-​Vereinigung von Menschen mit Netzhautdegeneration, deren Mitgliedskreis ausschließlich aus Personen mit Netzhauterkrankungen sowie deren Angehörige besteht. Dabei streiten die Parteien darüber, an welchen Adressatenkreis sich die Anzeige richtet.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 04.12.2015 (ASt 10) nahm die Antragstellerin die Antragsgegnerin im Ergebnis erfolglos auf Unterlassung in Anspruch. Auf Antrag der Antragstellerin vom 22.12.2015 erging daraufhin seitens des Landgerichts Hamburg gegen die Antragsgegnerin eine einstweilige Unterlassungsverfügung (312 O 523/15). Hiergegen hat die Antragsgegnerin Widerspruch eingelegt.

Die Antragstellerin ist der Ansicht, die Überschrift der Werbeanzeige „Ein technisch weiterentwickeltes System zur Wiederherstellung von Sehvermögen in einer klinischen Studie“ führe den Leser in die Irre, da die Erwartung geweckt würde, das Sehvermögen könne mit dem I.® System tatsächlich wieder hergestellt werden. Dem Leser werde suggeriert, dass die technische Weiterentwicklung bereits wissenschaftlich bestätigt und das System technisch in einer Art und Weise weiterentwickelt sei, dass es einen Fortschritt gegenüber sämtlichen Konkurrenzprodukten auf dem Markt aufweise. Alleine aus dem Umstand, dass eine Studie durchgeführt wird, könne der Adressat der Anzeige nicht schließen, dass überhaupt noch keine Erkenntnisse zu dem beworbenen System vorlägen. Vielmehr würde er erwarten, dass ihm ein funktionsfähiges System zur Wiederherstellung des Sehvermögens geboten würde, für das lediglich ermittelt werden solle, ob es auch geeignet ist, mehr Autonomie und Lebensqualität zu ermöglichen.

Die Aussage „Wiederherstellung von Sehvermögen mit dem intelligenten Retina Implantat System“ wecke bei dem Leser eine falsche Erwartung, da er damit rechnen würde, dass das System tatsächlich funktioniere, mit anderen Worten das Sehvermögen sicher wieder herstellen könne. Indem das System als „intelligent” bezeichnet werde, entstünde der Eindruck, das System funktioniere besonders gut, was aber noch völlig unklar sei.

Die Passage bezüglich des sich in der Entwicklung befindlichen I.® II Systems „Die Firma geht, nachdem die Nutzung in der klinischen Prüfung regulatorisch genehmigt ist, zu folgender Technologie über:

- 150 Elektroden epiretinales Implantat mit potentiell größerer Anzahl und intelligenteren Stimulationskombinationen
- Integrierter, bionischneuromorphischer Bildsensor(,) der die Funktion der menschlichen Netzhaut nachahmt und ereignisgestützte Stimulationssignale liefert.“

sei irreführend, da mangels wissenschaftlicher Nachweise völlig unklar sei, ob das Implantat die beschriebenen Ergebnisse und Wirkungen erzielen könne. Die Antragsgegnerin messe ihrem System bereits Eigenschaften zu, die sie eigentlich erst prüfen wolle. Ferner würde der Leser erwarten, das I.® II System werde schon in der beworbenen Studie zum Einsatz kommen.

Mit dem Abschnitt „Was ist der Unterschied zwischen I.® und anderen auf dem Markt befindlichen Produkten? Das explantierbare Design erlaubt einen potentiellen, zukünftigen Austausch durch neuere Therapiermöglichkeiten.“ werde der Eindruck erweckt, dass es tatsächlich möglich sei, das beworbene System durch neuere Therapiemöglichkeiten zu ersetzen und dass diese Möglichkeit wissenschaftlich belegt sei. Beides treffe aber nicht zu.

Schließlich verstoße die Antragsgegnerin gegen § 19 MPG und die darin in Bezug genommene harmonisierte ISO Norm 14155 sowie gegen § 3 Abs. 3 Nr. 4 MPKPV, da sie mit Hilfe der Werbeanzeige Patienten für die beworbene Studie rekrutieren wolle, ohne jedoch die Anzeige im Vorfeld der Ethikkommission zur Prüfung vorgelegt zu haben.

§ 3 MPKPV und die ISO Norm 14155 seien in Verbindung mit § 19 MPG Marktverhaltensregelungen im Sinne des § 3a UWG, da § 19 MPG auch Regelungen zum Schutz Dritter treffe. Die beanstandete Anzeige sei weiterhin eine Probandeninformation im Sinne des § 3 Abs. 3 Nr. 4 MPKPV, da auch Werbematerialen darunter fielen, wenn sie - wie es bei der Publikation der Antragsgegnerin der Fall sei - Patienten derart beeinflussen könnten, dass diese die später ausgehändigten Informationen zur Studie nicht mehr neutral und unvoreingenommen zur Kenntnis nehmen würden.

Auch wenn die Anträge der Antragsgegnerin auf Zustimmung der Ethik-​Kommission und Genehmigung durch das BfArM bereits Ende 2012 gestellt worden seien, sei eine Vorlage der im Jahr 2015 veröffentlichten Studienwerbung nötig, da andernfalls das gesamte Antragsmaterial nach erfolgter Anmeldung ausgetauscht werden könnte.

Die Antragstellerin beantragt,

die einstweilige Verfügung vom 12.01.2016 zu bestätigen.

Die Antragsgegnerin, welche das Bestehen eines Verfügungsgrundes in Zweifel zieht, beantragt,

unter Aufhebung der einstweiligen Verfügung den Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.

Im Hinblick auf die angegriffenen Werbeaussagen ist die Antragsgegnerin der Meinung, die Überschrift „Ein technisch weiterentwickeltes System zur Wiederherstellung von Sehvermögen in einer klinischen Studie“ sei nicht irreführend, da nur die Aufgabe des I.® Systems mitgeteilt werde, ohne eine bestimmte Erwartung an den Grad des wiederhergestellten Sehvermögens zu wecken, und deutlich erkennbar sei, dass das I.® System in einer klinischen Studie eingesetzt werden solle.

Die Anzeige spreche nur Fachkreise an, die mit dem Gebiet der Netzhautforschung vertraut wären, diese würden aber auf Grund ihres Spezialwissens weder erwarten, dass wissenschaftliche Nachweise über die Leistungsfähigkeit und Sicherheit des Systems bereits vorlägen, noch dass eine vollständige Wiederherstellung des Sehvermögens in der beworbenen Studie erreicht werden könne.

Im Übrigen sei der Begriff „Wiederherstellung von Sehvermögen“ zur Beschreibung der Funktion von Retina-​Implantaten gebräuchlich und werde sogar von der Antragstellerin verwendet.

Bei dem Passus „Wiederherstellung von Sehvermögen mit dem intelligenten Retina Implantat System“ handle es sich erkennbar um die Bezeichnung für die von der Antragsgegnerin gesponserte klinische Studie. Die Verwendung des Begriffs „intelligent“ weise lediglich auf die künstliche Intelligenz bei der Stimulation der Netzhaut mit Hilfe des I.® Systems hin, beziehe sich also darauf, dass mit dem I.® System versucht würde, die natürlich Funktion des Auges nachzubilden.

In dem Abschnitt zum I.® II System „Die Firma geht, nachdem die Nutzung in der klinischen Prüfung regulatorisch genehmigt ist, zu folgender Technologie über:
- 150 Elektroden epiretinales Implantat mit potentiell größerer Anzahl und intelligenteren Stimulationskombinationen
- Integrierter, bionischneuromorphischer Bildsensor(,) der die Funktion der menschlichen Netzhaut nachahmt und ereignisgestützte Stimulationssignale liefert.“

werde ausdrücklich klargestellt, dass das neue System erst in einer klinischen Prüfung eingesetzt werde, nachdem die Genehmigung hierfür vorläge. Die Adressaten der Anzeige gingen daher davon aus, dass im Rahmen der klinischen Studie alleine das I.® I System eingesetzt werde. Ihnen sei zudem bekannt, dass Medizinprodukte generell einer klinischen Prüfung bedürften und daher wissenschaftlichen Nachweise nicht bereits vor der Genehmigung einer entsprechenden Prüfung vorlägen könnten.

Mit der Äußerung „Was ist der Unterschied zwischen I.® und anderen auf dem Markt befindlichen Produkten? Das explantierbare Design erlaubt einen potentiellen, zukünftigen Austausch durch neuere Therapiemöglichkeiten.“ teile die Antragsgegnerin lediglich mit, dass das explantierbare Design von I.® I, welches bereits mehrfach erfolgreiche Explantation ermöglicht habe, einen Austausch durch neuere Therapiemöglichkeiten erlaube, sofern in der Zukunft neuere Therapiemöglichkeiten einen solchen Austausch erforderlich machen sollten. Es werde jedoch nicht suggeriert, dass ein Austausch durch neuere Therapiemöglichkeiten tatsächlich und nachweislich möglich sein werde.

Schließlich verstoße die Antragsgegn. durch die Rekrutierung von Patienten für die beworbene Studie ohne vorherige Vorlage der Werbeanzeige bei der Ethikkommission nicht gegen eine Marktverhaltensregelung im Sinne des § 3a UWG.

Ein Verstoß gegen § 3 MPKPV liege nicht vor, da die Norm keine Vorgaben für die Übermittlung von Dokumenten treffe, nachdem der Antrag auf Zustimmung der Ethik-​Kommission zur klinischen Bewertung und auf deren Genehmigung durch das BfArM gestellt worden sei. Auch gegen die ISO Norm 14155 habe die Antragsgegnerin nicht verstoßen, da die in Ziffer 4.5.2 normierte Pflicht, Werbematerial der Ethik-​Kommission vorzulegen, nur die mit dem Antrag auf Zustimmung zur klinischen Prüfung vorzulegenden Unterlagen betreffe. Schließlich würde es sich bei § 3 MPKPV und der ISO Norm 14155 nicht um Marktverhaltensregeln i.S.d. § 3a UWG handeln. Beide Normen beträfen einen dem eigentlichen Wettbewerbsverhalten vorgelagerten Bereich, sodass ihnen die von § 3a UWG vorausgesetzte wettbewerbsbezogene Schutzfunktion fehle. Im Übrigen würden § 3 MPKPV und Ziffer 4.5.2 der ISO Norm 14155 nicht dem Individualinteresse von Marktteilnehmern, sondern alleine dem gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsinteresse dienen.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt und die Aufmachung der von den Parteien zur Akte gereichten Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist in Bezug auf Ziffer I. begründet. Im Übrigen ist er unbegründet mit der Folge, dass insoweit die ergangene Verfügung aufzuheben und der Antrag auf Erlass derselben zurückzuweisen war.

I.

Der Verfügungsgrund in Form der Dringlichkeit ist gegeben. Das Vorbringen der Antragsgegnerin, dass die Antragstellerin bereits Mitte Oktober 2015 von der Werbebroschüre Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, greift nicht durch. Die Ausführungen waren nicht hinreichend konkret, um die gesetzliche Vermutung der Dringlichkeit gem. § 12 Abs. 2 UWG zu widerlegen, da keinerlei Erkenntnisse darüber vorliegen, wann die Antragstellerin Kenntnis von den beanstandeten Unterlagen erlangt hat und sie – offensichtlich entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - auch nicht verpflichtet ist, hierzu im Einzelnen vorzutragen.

II.

Soweit es den Verfügungsanspruch betrifft, ist zu differenzieren: Ein Verfügungsanspruch ergibt sich hinsichtlich der angegriffenen Werbeaussagen aus §§ 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, 3, 3a, 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Nr. 2 a) HWG (2. – 5.). Ein Anspruch der Antragstellerin, dass die Antragsgegnerin die Werbeanzeige bei der Ethikkommission zur Prüfung vorzulegen und andernfalls die Rekrutierung von Patienten für ihre Studie mit Hilfe dieser Anzeige zu unterlassen hat, besteht hingegen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt (6.).

1. Dabei kann dahinstehen, ob die Anzeige entsprechend der nicht glaubhaft gemachten Behauptung der Antragsgegnerin (nur) in einer Fundraising-​Broschüre der Vereinigung P. R. Deutschland e.V. erschienen ist. Bei der vorzunehmenden Würdigung der angegriffenen Werbeaussagen ist nicht alleine auf den Empfängerhorizont von Fachkreisen und Unternehmen, sondern vorrangig von Patienten und deren Angehörigen abzustellen, das heißt, von Personen, die nicht - oder jedenfalls nicht zwangsläufig - über einen außerordentlichen Informationsstand oder über Spezialwissen verfügen. Dies ergibt eine Gesamtschau der Broschüre im Allgemeinen und der Werbeanzeige im Besonderen. Bereits auf der Titelseite findet sich die Passage „Wir sind ein Team. Patienten, Augenärzte und Forscher”. Verschiedene Abschnitte der Broschüre richten sich ausdrücklich an Patienten, so etwa eine Übersicht mit dem Titel „Von Patienten für Patienten” oder eine Ansprache unter der Überschrift „Liebe Interessierte und Spender”. Sogar die beanstandete Anzeige richtet sich unmittelbar an Patienten als potentielle Studienteilnehmer („Leiden Sie unter Netzhautdystrophy?”).

2. Die Überschrift „Ein technisch weiterentwickeltes System zur Wiederherstellung von Sehvermögen in einer klinischen Studie“ führt den Leser in die Irre, da die Antragsgegnerin zum einen suggeriert, dass das Sehvermögen mit dem I.® System tatsächlich, sei es auch nur zu einem geringen Grad, wieder hergestellt werden kann und zum anderen den Eindruck erweckt, dass die technische Weiterentwicklung und Funktionsfähigkeit des Systems bereits wissenschaftlich bestätigt ist. Dem steht nicht entgegen, dass mit der Überschrift zugleich eine klinische Studie beworben wird, denn alleine der Umstand, dass eine solche Studie stattfindet, führt nicht ohne weiteres zu dem Schluss, dass noch überhaupt keine wissenschaftliche Erkenntnisse über das zu untersuchende System vorliegen.

Der Begriff „Wiederherstellung von Sehvermögen” mag zwar in Fachkreisen gebräuchlich sein, jedoch nur im Sinne eines noch nicht erreichten Fernziels der Forschung. Um diesem Verständnis gerecht zu werden, hätte die Antragsgegnerin eine Überschrift wählen müssen, aus der eindeutig hervorgeht, dass das von ihr entwickelte System mit Hilfe der beworbenen Studie erst auf seine Funktionsfähigkeit überprüft werden muss.

Des Weiteren legt die Antragsgegnerin dem Leser mit dem Terminus „ein technisch weiterentwickeltes System” in unzulässiger Weise nahe, ihr stünde eine Spitzen- und Alleinstellung am Markt zu, da mangels konkreter Bezugnahme auf ein anderes System der Anschein entsteht, dass das I.® System gegenüber sämtlichen Konkurrenzprodukten weiterentwickelt und diesen überlegen ist.

3. Die Aussage „Wiederherstellung von Sehvermögen mit dem intelligenten Retina Implantat System“ führt den Adressaten der Werbeanzeige in die Irre, da die Bezeichnung des I.® Systems als „intelligent” - jedenfalls auch - so verstanden werden kann, dass das System besonders gut funktioniert. Ob das System tatsächlich funktionsfähig ist, steht hingegen noch nicht fest, sondern soll mit der beworbenen Studie gerade erst untersucht werden. Die im Termin zur mündlichen Verhandlung eingereichte eidesstattliche Versicherung verbessert die Position der Antragsgegnerin nicht. Aus ihr geht lediglich hervor, dass bei Professor Dr. R. die Explantation des Systems keine Beschädigung der Netzhaut verursacht habe und ihm nicht bekannt sei, dass bei Explantationen in anderen klinischen Zentren Komplikationen aufgetreten seien. Dies reicht ohne belastbaren wissenschaftlichen Hintergrund nicht aus, um mit solch einem „starken“ Wort wie „intelligent“ zu werben.

Auch dass das Wort „intelligent” Bestandteil des von der Antragsgegnerin verwendeten Studiennamens ist, schließt eine Irreführung im Sinne des § 5 UWG nicht aus, da eine solche Irreführung auch durch eine Unternehmens- oder Produktbezeichnung hervorgerufen werden kann (Bornkamm, in: Köhler/Bornkamm, UWG, 34. Aufl. 2016, § 5 Rn. 2.55). Dieser Gedanke lässt sich auf den Titel einer klinischen Prüfung übertragen.

4. Die Beschreibung des I.® II Systems „Die Firma geht, nachdem die Nutzung in der klinischen Prüfung regulatorisch genehmigt ist, zu folgender Technologie über:

- 150 Elektroden epiretinales Implantat mit potentiell größerer Anzahl und intelligenteren Stimulationskombinationen
- Integrierter, bionischneuromorphischer Bildsensor(,) der die Funktion der menschlichen Netzhaut nachahmt und ereignisgestützte Stimulationssignale liefert.“

ist irreführend, da den Patienten, die in der Regel keine vertieften Kenntnisse von Zulassungsprozessen und dem Ablauf klinischer Prüfungen haben, zu verstehen gegeben wird, dass der Übergang zu dem I.® II System sicher stattfinden wird. Die Formulierung „nachdem die Nutzung in der klinischen Prüfung regulatorisch genehmigt ist” bringt zum Ausdruck, dass nur das Wann, nicht das Ob der Genehmigung offen ist und erweckt dadurch den Eindruck, dass bereits in der beworbenen Studie ein Übergang zu der neuen Technologie erfolgen kann.

Weiterhin ist die Beschreibung, dass im neuen System ein „Bildsensor(,) der die Funktion der menschlichen Netzhaut nachahmt und ereignisgestützte Stimulationssignale liefert(,)” verwendet werden wird, so aufzufassen, dass diese Technologie tatsächlich funktioniert. Eine entsprechende Funktionsfähigkeit ist bislang aber mangels entsprechender Untersuchungen noch ungeklärt, die Aussage also insoweit missverständlich.

5. Die Passage „Was ist der Unterschied zwischen I.® und anderen auf dem Markt befindlichen Produkten? Das explantierbare Design erlaubt einen potentiellen, zukünftigen Austausch durch neuere Therapiemöglichkeiten.“ ist irreführend, da der Vorteil der Explantierbarkeit des I.® Systems wissenschaftlich noch nicht nachgewiesen ist, aber als tatsächlich und zuverlässig funktionierend dargestellt wird.

6. Ein Anspruch der Antragstellerin, die Antragsgegnerin habe es zu unterlassen, mit der angegriffenen Werbeanzeige Patienten zu rekrutieren oder rekrutieren zu lassen, wenn sie die Anzeige nicht zuvor der Ethikkommission zur Prüfung vorgelegt habe, besteht hingegen nicht. Eine entsprechende Vorlagepflicht folgt weder aus § 19 MPG i.V.m. der ISO Norm 14155 noch aus § 3 Abs. 3 Nr. 4 MPKPV.

a) Ziffer 4.5.2 der ISO Norm 14155 sieht vor, dass Werbematerial der Ethik-​Kommission zur Prüfung vorzulegen ist, betrifft aber nur den ersten Antrag („Initial EC submission“), in Deutschland also den Antrag auf Zustimmung zur klinischen Prüfung. Die Antragsgegnerin hat sowohl den Antrag auf Zustimmung der Ethik-​Kommission als auch den Antrag auf Genehmigung durch das BfArM bereits Ende 2012 gestellt, die angegriffene Anzeige jedoch erst im Oktober 2015 veröffentlicht. Eine Vorlage der Anzeige bereits bei Antragstellung war daher schon denklogisch nicht möglich. Welche Informationen und Unterlagen der Ethik-​Kommission nach Erteilung ihrer Zustimmung zu berichten bzw. vorzulegen sind, bestimmt Ziffer 4.5.4 der ISO Norm 14155. Dort werden Werbematerialien indes gerade nicht mehr genannt.

Das Argument der Antragstellerin, eine Vorlage der Anzeige sei trotz des späten Zeitpunkts der Studienwerbung nötig, da andernfalls das gesamte Antragsmaterial nach erfolgter Anmeldung ausgetauscht werden könnte, verfängt nicht. Ziffer 4.5.4 der ISO Norm 14155 sieht vor, dass „Änderungen zu von der Ethik-​Kommission genehmigten Unterlagen” vorzulegen sind, schützt also genau vor dem von der Antragstellerin befürchteten Austausch des Antragsmaterials. Die Vorschrift bezieht sich aber eindeutig auf „genehmigte” Unterlagen, mithin auf Materialien, die im Zeitpunkt der Antragstellung bereits vorlagen. Ein Nachreichen von später verwendeten Unterlagen wird demgegenüber nicht verlangt.

b) Auch § 3 MPKPV gibt nur vor, welche Anlagen dem Antrag auf Zustimmung der Ethik-​Kommission zur klinischen Bewertung (§ 22 Abs. 1 MPG) und dem Antrag auf deren Genehmigung durch das BfArM (§ 22a Abs. 1 MPG) beizufügen sind. Die Norm trifft darüber hinaus keine Vorgaben für die Übermittlung von Dokumenten, nachdem der Antrag gestellt worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 ZPO.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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