(23.5.2018) Bestellt ein Arzt einen Patienten mit starken Hüftschmerzen und Fieber nicht wieder ein zur Durchführung einer medizinisch gebotenen weiteren Diagnostik, so kann dies einen haftungsbegründenden Befunderhebungsfehler darstellen. Es handelt sich dann nicht nur um einen bloßen Verstoß gegen die therapeutische Sicherungsaufklärung. oder einen nicht vorwerfbaren Diagnoseirrtum. Die nicht rechtzeitige Befunderhebung stellt einen Befunderhebungsfehler dar. Dieser Befunderhebungsfehler war hier aufgrund der Situation der Klägerin sogar als grob einzustufen (Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 17. Mai 2018 – 7 U 32/17).

Hüfte RoentgenDer Fall:

Die damals sechs Jahre alte Klägerin litt seit zwei Tagen unter Schmerzen in der Hüfte, Erbrechen, Appetitlosigkeit und Antriebslosigkeit. Sie konnte das Bein nicht richtig bewegen und zeigte 39 Grad Fieber trotz Einnahme von fiebersenkendem Nurofen.

Die Eltern der Klägerin stellten diese am 7.10.2013 bei einer kinderärztlichen Gemeinschaftspraxis vor. Die beklagte Kinderärztin untersuchte die Klägerin. Sie diagnostizierte einen Hüftschnupfen (vorübergehende, keimfreie Entzündung des Hüftgelenkes)  und entließ das Kind nach Hause. Die Eltern sollten in zwei Tagen oder bei Befundverschlechterung wiederkommen. 

Eine Bersserung trat aber nicht ein. In der Folge entwickelte das Kind vielmehr eine entzündungsbedingte Hüftkopfnekrose/Hüftgelenksnekrose trotz weiterer ärztlicher Behandlung in einer Klinik. Die Hüfte wurde erheblich geschädigt. Das Kind ist nun auf einen Rollstuhl angewiesen.

Die Klägerin warf der Kinderärztin vor, sie habe fehlerhaft es unterlassen, Befunde zu erheben. Sie hätte die Klägerin nicht ohne weitere Untersuchungen nach Hause schicken dürfen. Die Kinderärztin wies die Vorwürfe zurück. Ihr sei lediglich ein entschuldbarer Diagnosefehler unterlaufen, d.h. sie habe lediglich einen falsche Diagnose gestellt, was ihr nicht vorzuwerfen sei. Die Eltern selbst hätte das Kind zu spät in einer Klinik vorgestellt und damit den Schaden selbst (mit)verursacht.

Die Klägerin klagte auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von EUR 70.000 und Schadensersatz und warf der Kinderärztin u.a. einen Befunderhebungsfehler vor.  

Das Landgericht wies die Klage ab. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin mit der sie weiterhin Schmerzensgeld und Schadensersatz von der Kinderärztin verlangt. 

Die Entscheidung:

Das Oberlandesgericht Karlsruhe hörte medizinische Sachverständige an und gab der Klage schließlich statt. Dazu führt das Gericht aus:

Ein bloßer Diagnoseirrtum liege vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen - therapeutischen oder diagnostischen - Maßnahmen ergreift. Ein Befunderhebungsfehler sei demgegenüber in Abgrenzung zum Diagnoseirrtum gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen worden sei.

Hier liege ein Befunderhebungsfehler vor. Denn die beklagte Kinderärztin habe es - wie die Sachverständigen ausführten - sorgfaltswidrig unterlassen, hinreichend der Frage nachzugehen, ob bei der Klägerin die Differenzialdiagnose einer septischen Arthritis des Hüftgelenks zu stellen war und die dann gebotenen Befunde rechtzeitig vollständig zu erheben bzw. die Einweisung in eine Klinik zur weiteren Befunderhebung zu veranlassen. Diese nicht rechtzeitige Befunderhebung stelle einen Befunderhebungsfehler dar.

Ein Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Aufklärung liege nicht vor. Unterlässt es der Arzt, den Patienten über die Dringlichkeit der - ihm ansonsten zutreffend empfohlenen - medizinisch gebotenen Maßnahme zu informieren und ihn vor Gefahren zu warnen, die im Falle des Unterbleibens entstehen können, liegt ein - regelmäßig nicht als grober Behandlungsfehler zu qualifizierender - Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Aufklärung (Sicherungsaufklärung) des Patienten vor. Dies sei hier aber nicht der Fall, weil die Beklagte es indes bereits unterlassen habe, die noch am Nachmittag des 07.10.2013 zur weiteren Diagnostik medizinisch gebotene Wiedervorstellung der Klägerin zu veranlassen. Damit liege der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit nicht in dem Unterlassen von Warnhinweisen an die Eltern zum Zwecke der Sicherstellung des Behandlungserfolges bei zutreffender Information über die medizinisch gebotene Maßnahme, sondern in der nicht rechtzeitigen Befunderhebung im Sinne einer Wiedereinbestellung der Klägerin noch auf den Nachmittag desselben Tages zur weiteren diagnostischen Abklärung.

Das Gericht sah den Befunderhebungsfehler auch als grob an, was zu einer der Klägerin günstigen Beweislastumkehr führte. Denn der Zustand der Klägerin habe sich nach dem 7.10.2013 nicht verbessert. Die Schmerzenhätten unverändert angehalten und sie habe den ganzen Tag im abgedunkelten Zimmer gelegen und eine Essensaufnahme abgelehnt. In diesem Fall hätte man nach den weiteren Darlegungen des Sachverständigen eine Einweisung in ein Krankenhaus vornehmen müssen. Das zu unterlassen wäre nach seinen Ausführungen ein schwerwiegender Behandlungsfehler gewesen. Die Prognose eines Hüftschnupfens wäre dann aufgrund des mittlerweile eingetretenen Zeitablaufs nicht mehr vertretbar gewesen und man hätte das worst-case-Szenario in Betracht ziehen müssen. Das OLG ist auf der Grundlage dieser medizinischen Beurteilung des Sachverständigen davon überzeugt, dass sich die Verkennung hier als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft im oben gesagten Sinne darstellt.

Praxisanmerkung:

Bei Beschwerden eines Patienten, die nicht eindeutig sind, die aber auch auf eine schwerwiegende Erkrankung hinweisen können (hier: ernsthafte Hüftgelenksinfektion) sollte der Arzt sicherheitshalber die diagnostische Klaviatur zumindest anspielen. Soweit die personellen oder zeitlichen Kapazitäten in einer Kinderarztpraxis dafür nicht gegeben sind, ist eine höchstvorsorgliche Einweisung in die Kinderklinik der für das Kind und den Arzt sicherste Weg und daher dringend anzuraten. Die Gerichte sind in der Regel streng, wenn Ärzte notwendige Diagnostik unterlassen und bestrafen dies, wie der vorliegende Fall wieder einmal belegt. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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