(1.10.2018) Krankenkassen haben die von dem Heilmittelerbringer eingereichten Rechnungen nebst der ärztlichen Verordnungen sogleich auf eventuelle Fehler zu prüfen und namentlich bei Überschreiten der nach dem Heilmittel-Katalog zulässigen Verordnungsmengen je Diagnose die Vergütungsansprüche des Heilmittelerbringers zurückzuweisen. Sie hat also unwirtschaftliche Verordnungen zeitnah abzuwehren. Dies gebietet ihre Schadensminderungspflicht. Andernfalls kann die Kassenärztliche Vereinigung diese Leistungen nicht regressieren (Sozialgericht Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2018 – S 2 KA 27/17).

PhysiotherapieDer Fall:

Im Streit steht die Verordnung von Physiotherapie durch zwei niedergelassene Orthopäden. Von 2012 bis 2016 verordneten sie der Patientin L. im Rahmen der Diagnosegruppe EX3 („Verletzungen/Operationen und Erkrankungen der Extremitäten und des Beckens mit prognostisch längerem Behandlungsbedarf“), insgesamt verordneten sie 31-mal standardisierte Heilmittelkombinationen (D1) außerhalb des Regelfalls, davon 21 Verordnungen über 6 Einheiten und 10 Verordnungen über 10 Einheiten.

Die Krankenversicherung hatte zu Beginn der Behandlung den Verzicht auf das Genehmigungserfordernis erklärt.  

Unter dem 19.07.2016 beantragte die Krankenversicherung die Prüfung dieser Heilmittelverordnungen. Es seien dauerhaft standardisierte Heilmittelkombinationen verordnet worden. Im Rahmen eines Regelfalls seien innerhalb der Diagnosegruppe EX3 maximal 10 Einheiten für standardisierte Heilmittelkombinationen zulässig. Sind standardisierte Heilmittelkombinationen nicht innerhalb des Regelfalls verordnet worden, könnten sie außerhalb des Regelfalls einmalig bis zu der im Regelfall vorgesehenen Gesamtverordnungsmenge verordnet werden (§ 12 Abs. 5 der Heilmittel-Richtlinien). Daher ging die Beklagte von einer Verordnungsmenge von maximal 10 Einheiten aus.

Mit Bescheid vom 10.01.2017 setzte die Kassenärztliche Vereinigung für die Verordnungen der Patientin L einen Regress in Höhe von 7.217,84 EUR netto fest. Dabei akzeptierte sie eine Verordnungsmenge von 10 Einheiten, die sie auf die Verordnungen vom 05.11.2016 (6-mal D1) und 03.12.2012 (4-mal D1) anrechnete. Alle darüber hinaus gehenden Verordnungen wurden regressiert.

Die Entscheidung:

Das Sozialgericht gab der Klage der Orthopäden gegen diesen Regress teilweise (in Höhe von über 4.000 EUR) statt.

Im Rahmen eines Regelfalls seien innerhalb der Diagnosegruppe EX3 maximal 10 Einheiten für standardisierte Heilmittelkombinationen zulässig. Der im Juli 2016 gestellte Prüfantrag der Krankenkasse ließe wegen der vierjährigen Ausschlußfrist für Regresse Regressfestsetzungen bis zum ersten Verordnungsdatum (05.11.2012) zu.

Allerdings führe dies vorliegend nicht dazu, dass die Krankenkasse vier Jahre lang ihrer Versicherten hat Heilmittel gewähren dürfen, die dieser nach dem Heilmittel-Katalog wegen Überschreitung der Höchstgrenzen nicht zugestanden hatten, und sich die als unwirtschaftlich anzusehenden Kosten anschließend von den verordnenden Vertragsärzten über einen Verordnungsregress erstatten lässt. Denn insofern verstieße die Krankenkasse gegen ihre Schadensminderungspflicht. Das Bundessozialgericht habe aus dem Sozialrechtsverhältnis die Pflicht der Beteiligten hergeleitet, "sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren".

Vor allem habe aber die gesetzliche Krankenkasse als primäre Adressatin des Wirtschaftlichkeitsgebotes die Pflicht, die von dem Heilmittelerbringer eingereichten Rechnungen nebst der ärztlichen Verordnungen sogleich auf eventuelle Fehler zu prüfen und namentlich bei Überschreiten der nach dem Heilmittel-Katalog zulässigen Verordnungsmengen je Diagnose die Vergütungsansprüche des Heilmittelerbringers zurückzuweisen. So hätte vorliegend der Beigeladenen zu 1) zeitnah auffallen müssen, dass in dichter Folge, z.T. mehrfach im Monat, standardisierte Heilmittelkombinationen verordnet und vom Heilmittelerbringer abgerechnet worden sind. Das hätte angesichts ihrer besonderen Sach- und Fachkenntnis im Umgang mit Heilmittel-Verordnungen nach dem Heilmittel-Katalog dazu führen müssen, dass sie entweder ihren Verzicht auf das Genehmigungserfordernis (§ 8 Abs. 4 Heilmittel-Richtlinien) zurücknimmt oder jedenfalls dem Heilmittelerbringer die weitere Vergütung versagt, damit dieser sich mit der Klägerin in Verbindung setzt, um deren Verordnungsentscheidungen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Das Sozialgericht lässt sich von der Überlegung leiten, dass spätestens bis zum Jahresende 2013 eine Überprüfung des Sachverhalts und entsprechende Reaktion durch die Beigeladene zu 1) geboten war. Dann sei für die Krankenkasse das Haushaltsjahr 2013 abgeschlossen und es hatte seit der ersten Verordnung am 05.11.2012 über ein Jahr lang hinreichend Gelegenheit bestanden, den Schaden zu begrenzen und weitere unwirtschaftliche Verordnungen abzuwehren. Das Gericht hat deshalb aus dem Gesichtspunkt der unterlassenen Schadensminderungspflicht die Regresse wegen der Verordnungen ab dem 13.01.2014 aufgehoben.

Praxisanmerkung:

Derartige Streitigkeiten können vermieden werden, indem der Arzt oder der Patient vor Beginn der Physiotherapie oder kurz danach bei der Krankenkasse eine schriftliche Genehmigung der verordneten Physiotherapieeinheiten einholt bzw. einen Antrag für eine Langfristgenehmigung stellt. Dies ist der sicherste Weg.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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