(24.1.2019) Die GOP 35100 EBM ist keine Quartalsziffer, kann also mehrfach im Quartal abgerechnet werden. Es ist unrichtig, dass der Behandlungsziffer 35110 EBM grundsätzlich die Diagnoseziffer 35100 EBM vorausgehen müsste oder dass diese nur in einer gewissen Relation zueinander verwendet werden dürften. Die Prüfstelle darf den zu Gunsten der Ärztin zu berücksichtigenden Mehrversorgungsanteil (hier um 730%) nicht einfach pauschal festsetzen (auf 200 %) sondern muss diesen konkret berechnen, insbesondere wenn aussagekräftiges Zahlenmaterial für die Bestimmung der Morbidität des spezifischen Patientenklientels vorliegt. Und bei der Prüfung, ob eine Übrerschreitung des Fachgruppendurchschnitts vorliegt, ist die besondere Qualifikation der Ärztin insofern zu ihren Gunsten zu berücksichtigen, als die Vergleichsgruppe auch nur unter Einbeziehung der Ärzte zu bilden ist, die ebenfalls über diese Qualifikation verfügen und die entsprechende Leistung auch tatsächlich abrechnen (SG Marburg, Urteil vom 17. Dezember 2018 – S 17 KA 223/17).

Honorarrückforderungen von Hausärztin abgewehrtDer Fall:

Die Klägerin ist seit dem 1. Juli 2002 als Fachärztin für Allgemeinmedizin mit Praxissitz in A-Stadt niedergelassen und nimmt an der hausärztlichen Versorgung teil.

Die Beteiligten streiten über Honorarkürzungen in Höhe von 39.531,39 € netto für die Quartale I/2012-IV/2012 wegen eines offensichtlichen Missverhältnisses im Vergleich zur Fachgruppe im Bereich der Gebührenordnungsposition (GOP) 35100 EBM (differenzialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) bzw. GOP 35110 EBM (verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) im Rahmen einer Prüfung nach § 10 Abs. 2 der Prüfvereinbarung (Prüfung der Behandlungsweise nach Durchschnittswerten).

Mit Schreiben vom 22. Februar 2015 informierte die Prüfungsstelle die Klägerin über die von Amts wegen durchgeführte Überprüfung der Wirtschaftlichkeit. Die Klägerin trug daraufhin umfangreich vor, wobei sie insbesondere darauf hinwies, dass sie sich als Schwerpunktpraxis für psychosomatische Erkrankungen und Schmerzbehandlungen sowie durch eine fundierte allgemeinmedizinische Behandlung mit internistischem Anspruch unter starker Zuhilfenahme von Naturheilkunde einen Namen gemacht habe. Sie habe ein Patientenklientel, das viel Aufmerksamkeit und auch Zeit beanspruche. Normale Verdünnungsscheine seien bei ihr die absolute Ausnahme.

Bei den Leistungen der GOP 35100 und 35110 EBM handele es sich um fachgruppentypische Leistungen. Es bestehe ein offensichtliches Missverhältnis im Vergleich zur Fachgruppe, was einem Anscheinsbeweis für ein unwirtschaftliches Verhalten entspreche. Der Vergleich sei mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) vorgenommen worden. Es sei festzustellen, dass die Praxis der Klägerin eine deutlich unterdurchschnittliche Fallzahl habe, während der Gesamtfallwert deutlich überdurchschnittlich sei.

Die Prüfungsstelle führte bezüglich der GOP 35100/35110 EBM eine Prävalenzprüfung durch, aus der sich anhand der dokumentierten Erkrankungen aus dem Bereich der psychischen Störungen und der Verhaltensstörungen nach Maßgabe bestimmter ICD Verschlüsselungen eine Mehrversorgung gegenüber der Fachgruppe von +731 % errechnete. Es ergebe sich eine außerordentliche Häufigkeit der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen in der Praxis der Klägerin im Vergleich zur Prüfgruppe. Im Rahmen der intellektuellen Prüfung des Quartals I/2012 sei festzustellen, dass bei über 90 % (478 Fälle) der Behandlungsscheine 1362-mal eine Diagnose aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen vorliege und davon auf 428 Behandlungsscheinen der Ansatz der GOP 35100/35110 EBM erfolgt sei. In 19 Fällen sei die GOP 35100 und/bzw. 35110 EBM ohne eine Diagnose aus dem Bereich F00-F99 angesetzt worden. Es erscheine nicht wirtschaftlich und notwendig, dass in einem Quartal (wie I/2012) bei 106 Patienten die GOP 35100 EBM mehrmals abgerechnet werde. Es erscheine überdies nicht nachvollziehbar, dass die Therapieziffer 35110 EBM deutlich weniger abgerechnet werde als die Diagnoseziffer 35100 EBM. Zudem sei die psychosomatische Grundversorgung bei hochbetagten Patienten aufgrund der Vorgaben des § 21 der Psychotherapierichtlinie zu hinterfragen. Insgesamt lasse die Ansatzhäufigkeit der ICD- Kodierungen (F00-F99) erhebliche Zweifel an der Korrektheit aufkommen, was dazu führe, dass eine Quantifizierung der Praxisbesonderheiten über die ICD-Verschlüsselungen nicht zielführend sei. Unter Bezugnahme auf die schmerztherapeutische Ausrichtung sei jedoch ein Mehrbedarf an psychosomatischer Grundversorgung in Höhe von +100 % anzuerkennen. Im Rahmen der Ermessensausübung sei neben dem Mehr von +100 % noch einmal ein Fachgruppendurchschnitt +100 % über die anerkannte Praxisbesonderheit hinaus anzuerkennen.

Die Ärztin klagte gegen den dann folgenden Honorarkürzungsbescheid.

Die Entscheidung:

Das Sozialgericht hob den Bescheid auf, weil dieser rechtswidrig sei:

Ergibt die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in einem offensichtlichen Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, d. h., ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten (Praxisbesonderheiten) erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit. Die Prüfgremien haben einen Beurteilungsspielraum, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis höher oder niedriger festzulegen.

Das Sozialgericht ist der Meinung, dass das Prüfgremium sein Ermessen hier nicht ausreichend ausgeübt hat:

Nicht überzeugt war das Gericht von der Ermessensausübung der Beklagten, wonach sie einen Rückschluss zog aus der Mehrversorgung von +731 % zu einem als angemessen erachteten Überschreitungsbetrag von +200 %. Die Prüfungsstelle und auch der Beklagte rügen im Wesentlichen, dass die GOP 35100 mehrmals im Quartal abgerechnet worden ist. Dieses Argument erschließt sich dem Gericht aber nicht: Es handelt sich bei der GOP 35100 EBM gerade nicht um eine Quartalsziffer, die nur einmal im Quartal angesetzt werden darf. Im Gegenteil bestehen hinsichtlich der Häufigkeit der Abrechnung im Quartal keine Einschränkungen. Es ist dem Gericht zudem bekannt, dass Patienten mit psychosomatischen Krankheitsbildern häufig unterschiedliche Schmerzbefunde äußern, die jeweils einer diagnostischen Abklärung bedürfen.

Auch aus der vom Beklagten als auffällig gerügten Korrelation von Therapieziffer 35110 und Diagnoseziffer 35100 kann das Gericht keine für die Klägerin nachteiligen Rückschlüsse ziehen. Es besteht keinesfalls eine Vorgabe des EBM dahingehend, dass der Behandlungsziffer 35110 EBM grundsätzlich die Diagnoseziffer 35100 EBM vorausgehen müsste oder dass diese nur in einer gewissen Relation zueinander verwendet werden dürften. Vielmehr hängt es im Einzelfall von dem vom Patienten geäußerten Beschwerden ab, ob eine Diagnostik oder die therapeutische Intervention vorzunehmen ist.

Darüber hinaus schließt sich dem Gericht auch den geäußerten Vorbehalte dahingehend, dass die psychosomatischer Grundversorgung bei hochbetagten Patienten "zu hinterfragen" sei, ausdrücklich nicht an. Allein vom Alter eines Patienten ist pauschal kein Rückschluss auf eine (nach Auffassung des Beklagten wohl fehlende) Introspektions- und Einsichtsfähigkeit, die von § 21 der Psychotherapierichtlinie für eine verbale Intervention vorausgesetzt wird, möglich.

Insofern verbleiben zur Überzeugung der Kammer nach den vorliegenden Unterlagen keine Zweifel im Hinblick auf die Richtigkeit der Ansatzhäufigkeit der ICD-Kodierungen (F00-F99) bei der Klägerin.

Die Kammer geht vor diesem Hintergrund davon aus - und dies wird die Beklagte bei ihrer Neubescheidung zu berücksichtigen haben -, dass der im Rahmen der Prävalenzprüfung ermittelte Mehrversorgungsanteil von +731 % einen Orientierungswert auch für das der Klägerin zuzugestehende Abrechnungsvolumen im Hinblick auf die GOP 35100 und 35110 EBM bietet. Dieser Orientierungswert ist der Berechnung der Praxisbesonderheit zugrunde zu legen. Insoweit ist - auch im Rahmen eines weiten Schätzungsermessens - keinesfalls nachvollziehbar, dass die im Rahmen einer Prävalenzprüfung ermittelten Mehrversorgungswerte ohne quantifizierbare Anhaltspunkte auf einen gegriffenen Pauschalbetrag (hier +200 %) gekürzt werden.

Weil die streitgegenständlichen Ziffern GOP 35100/35110 EBM die Qualifikation zur Erbringung psychosomatischer Leistungen gemäß § 5 Abs. 6 der Psychotherapievereinbarung erfordern, hält es das Gericht für geboten, die Vergleichsgruppe auch nur mit den Ärzten zu bilden, die über eine entsprechende Qualifikation verfügen bzw. faktisch die Leistung auch abrechnen. Dies ist hier nicht geschehen. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt aber der Feststellung eines offensichtlichen Missverhältnisses praktisch die Wirkung eines Anscheinsbeweises zu, so dass aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden kann, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, dass die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen.

Praxisanmerkung:

Je substantiierter und differenzierter der von der Honorarrückforderung betroffene oder bedrohte Arzt zu seinen Praxisbesonderheiten vorträgt, desto größer sind die Chancen, dass diese Besonderheiten zu seinen Gunsten berücksichtigt werden. Hierbei ist eine gute Dokumentaion der Behandlúng hilfreich. Der Arzt sollte auch sogleich umfangreich vortragen und damit nicht bis zum Beginn eines gerichtlichen Verfahrens abwarten. Der Zeitaufwand des Arztes für die Geltendmachung der Praxisbesonderheiten ist erheblich aber er lohnt sich in der Regel. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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