(20.10.2023) Gründet ein langjähriger Vertragsarzt nach seinem Ausscheiden aus einer Gemeinschaftspraxis eine Einzelpraxis, in der er einen Berufsanfänger anstellt, so liegt eine Neugründung einer Arztpraxis vor mit der Folge, dass für die Leistungen des angestellten Berufsanfängers (Jungarzt) ein individuelles Leistungsbudget mindestens in Höhe des Fachgruppendurchschnittes zugrunde zu legen ist. Denn die Regelungen zur Honorarverteilung müssen umsatzmäßig unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen die Möglichkeit geben, zumindest den durchschnittlichen Umsatz der Arztgruppe zu erreichen, was auch für Praxen in der Aufbauphase gilt (BSG, Urt. v. 19.7.2023 - B 6 KA 22/22 R).
Der Fall:
Nachdem er jahrelang als Vertragsarzt in einer Gemeinschaftspraxis tätig gewesen war, gründete ein Radiologe (im Folgenden: der Kläger) im Jahr 2014 eine eigene Praxis, in der er einen Berufsanfänger anstellte (Praxis mit zwei Versorgungsaufträgen). Er forderte für das Quartal 1/2014 eine Honorar von 256.157,95 EUR von der KV an. Die KV setzte das Honorar dagegen lediglich auf 169.713,34 EUR fest. Das durchschnittliche individuelle Leistungsbudget (ILB) der Arztgruppe lag im Quartal 1/2014 bei 111.421,95 EUR je Arzt und damit bei 222.843,90 EUR für eine Praxis, die wie die des Klägers zwei volle Versorgungsaufträge zu erfüllen hat. Der Berechnung der KV lag ein individuelles Leistungsbudget (ILB) für „übrige Leistungen der Radiologen“ in Höhe von 145.611,47 EUR zugrunde. Die innerhalb dieses Budgets erbrachten Leistungen wurden mit den Preisen der regionalen Euro-Gebührenordnung voll vergütet, die darüberhinausgehenden Leistungen wurden dagegen nur quotiert vergütet.
Widerspruch und Klage des Klägers gegen diese aus seiner Sicht deutlich zu niedrige Honorarfestsetzung blieben ohne Erfolg. Auch vor dem Landessozialgericht scheiterte der Kläger mit seinem Begehren, das volle Honorar für zwei Versorgungsaufträge zu erhalten.
Die Entscheidung:
Das Bundessozialgericht sprach dem Kläger das volle Honorar zu.
Denn die Regelungen zur Honorarverteilung müssten umsatzmäßig unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen die Möglichkeit geben, zumindest den durchschnittlichen Umsatz der Arztgruppe zu erreichen. Daher müsse einem einzelnen Vertragsarzt die Möglichkeit gegeben werden, durch Qualität und Attraktivität der Behandlungen oder durch bessere Praxisorganisation neue Patienten für sich zu gewinnen, um auf diese Weise jedenfalls bis zum Durchschnittsumsatz seiner Fachgruppe aufzuschließen. Ein angestellter Arzt, der weder als Vertragsarzt noch als Angestellter in der vertragsärztlichen Versorgung tätig war, werde als Jungarzt in einer Aufbaupraxis tätig und ihm sei bei der Honorarberechnung ein Abrechnungsvolumen mindestens in Höhe des Fachgruppendurchschnitts zuzuordnen.
Praxisanmerkung:
Wie die vorliegende Entscheidung zeigt, ist es ratsam, das Jungpraxenprivileg zu nutzen und sich nicht sogleich mit einem reduzierten Honorar zufrieden zu geben sondern seine Rechte notfalls auch durch die Intanzen zu verteidigen. Die Entscheidung zeigt auch, dass der Anwendungsbereich des Jungpraxenprivilegs sich nicht auf den in Einzelpraxis tätigen Berufsanfänger beschränkt, sondern auch dann greifen kann, wenn ein Berufsanfänger bei einem "alten Hasen" in einer neu gegründeten Praxis angestellt wird.
Die Dauer der Geltung des Jungpraxenprivilegs (Phase der Aufbaupraxis) ist im Honorarverteilungsmaßstab der jeweiligen KV definiert. Er beträgt in der Regel 12 Quartale. Dies gibt dem jungen Arzt genug Zeit, mengenmäßig den Anschluss zum Fachgruppenduchschnitt zu finden.
Das Jungpraxisprivileg beschränkt sich dabei nicht auf junge Ärzte und Ärztinnen sondern gilt auch für Ärzte, die schon länger ärztlich tätig sind außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung, sprich zum Beispiel ein Oberarzt, der eine eigene Kassenpraxis eröffnet.