psychosomatische Beschwerden(19.2.2024) Die Abrechenbarkeit der GOP 35100 und 35110 EBM erfordert keine codierte F-Diagnose. Der Arzt kann diese Leistungen auch dann nachweisen, wenn sie nicht mittels F-Diagnose codiert sind, wenn er der Prüfungsstelle die entsprechende Behandlungsdokumentation vorlegt, aus der sich eine funktionelle Störung und zugleich eine seelische Belastung des Patienten ergeben. GOP 35110 dürfe nicht fallbezogen geprüft werden von der Prüfstelle, weil diese Leistung auch mehrfach im Quartal erbracht werden könne (Sozialgericht Marburg, Urteile vom 31.1.2024 - S 17 KA 319/21 und S 17 KA 320/21).

Der Fall: 

Der Kläger ist Facharzt für Innere Medizin und nimmt an der hausärztlichen Versorgung teil. Seit 1982 ist er in einer Einzelpraxis in A-Stadt niedergelassen. Er verfügt über die Genehmigung für die „Psychosomatische Grundversorgung“. Im Rahmen eines Prüfverfahrens der Prüstelle zeigte sich, dass der Arzt in den Jahre 2015 bis 2018 die GOP 35100 (Differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) und 35110 EBM (Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) zwischen drei und vier mal so häufig abrechnete wie seine Fachkollegen aus der Vergleichgruppe.

Damit konfrontiert machte der Arzt gegenüber der Prüfstelle folgende Praxisbesonderheiten geltend:

  • besonderer Schwerpunkt der Praxis liege in der Behandlung junger Patienten
  • junge Bevölkerungsstruktur im Einzugsgebiet der Praxis
  • geringe Wirtschaftskraft im Einzugsgebiet
  • wenige Hausärzte in Umgebung
  • Hochschule in der Nähe der Praxis
  • Praxis arbeite mit Jugendhilfe zusammen
  • Betreuung arbeitsloser Jugendlicher durch die Praxis
  • viele junge Patienten aus schwierigem sozialem Umfeld mit geringen Zukunftsaussichten
  • daher viele psychosomatische Beschwerden
  • hohe Zahl von entsprechenden Medikamenten verordnet
  • dagegen behandelt Praxis sehr wenige ältere Patienten

Zum Beleg der psychosomatischen Beschwerden legte der Kläger der Prüfstelle verschiedene Behandlungsdokumentationen vor. 

Die Prüfstelle führte eine Prüfung der Häufigkeit der Erkrankungen (Prävalenzprüfungen) durch und ermittelte, dass der klagende Arzt die F-Diagnosen (ICD 10) zwischen drei bis sechs Mal so häufig codiere wie die Fachkollegen.

Die Prüfstelle erkannte pauschal +100% zum Fachgruppendurchschnitt als Praxisbesonderheit an und regressierte den verbleibenden Überschreitungsbetrag in Höhe von rund 14-18.000 EUR netto.

Dagegen legte der Kläger erfolglos Widerspruch und schließlich Klage ein.

Die Entscheidung:

Das Sozialgericht sah die Kürzung als fehlerhaft an und hob die Bescheide auf. Die Beklagte muss nun noch einmal über den Fall entscheiden unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Sozialgerichts.

Eingangs seiner Entscheidung erläuterte das Gericht das System der Wirtschaftlichkeitsprpüfung wie folgt:

Die Wirtschaftlichkeitsprüfung des Arztes erfolge mittels Auffälligkeitsprüfung.

Die Auffälligkeitsprüfung gliedere sich in:

  1. eine statistische Vergleichsprüfung zwischen geprüftem Arzt und seiner Vergleichsgruppe (die die betreffende Ziffer ebenfalls abrechnen)
    - Wenn diese Prüfung zeige, dass der Arzt die Ziffer mind. 40 % häufiger abrechne als seine Kollegen, so ist die Praxis auffällig, was eine unwirtschaftliche Behandlungsweise vermuten lasse 
  2. und im zweiten Schritt eine intellektuelle Prüfung:
    - Arbeitet der Arzt unter denselben Leistungsbedingungen wie die Vergleichsgruppe oder gibt es in seiner Praxis kostenerhöhende Praxisbesonderheiten?
    - Praxisbesonderheiten sind solche Umstände, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind

Gemessen an diesen Grundsätzen habe die Prüfstelle Fehler gemacht:

Die Prüfstelle habe die Häufigkeit der GOP 35110 fallbezogen geprüft obgleich die GOP 35110 auch mehrfach im Quartal abgerechnet werden könne (anders als die GOP 35100). Dies führe zu einer Unschärfe des Bescheides der Prüfstelle. Eine rein pauschale Reduktion der festgestellten Prävalenzen auf +100% erfülle nicht die Anforderung an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung. 

GOP 35100 EBM erfordere auch keine codierte F-Diagnose (ICD 10), deshalb dürfe der Arzt zum Beleg der Erfüllung der psychosomatischen Leistungslegende auch noch seine Behandlungsdokumentation vorlegen. Ergebe sich aus diesen ein psychosomatischer Bezug, so habe der Arzt seine Beweislast erfüllt. 

Dass der Arzt im Falle von Rückenschmerzen, Migräne; Kopfschmerzen, Magen- und Darmbeschwerden, Kreislaufstörungen, Schlafstörungen, Konzentrations- und Belastungsstörungen nahezu regelhaft bei seinen Patient*innen eine psychosomatische Diagnostik durchführt – und dann im vorliegenden Fall ganz überwiegend auch noch entsprechend mit einer F-Diagnose kennzeichnet -, hält das Sozialgericht Marburg weder für unzulässig noch für unwirtschaftlich.

Praxisanmerkung:

Der Arzt muss Praxisbesonderheiten detailliert und frühzeitig vor der Prüfstelle vortragen. Dies hat der Arzt hier mustergültig getan, indem er die besondere Struktur und Ausrichtung seiner hausärztlichen Praxis auf jugendliche Patienten mit psychischen Problemstellungen darlegte und erläuterte.

Der mit einer Wirtschaftlichkeitsprüfung konfrontierte Arzt sollte der Prüfstelle von sich aus Behandlungsdokumentationen vorlegen, um bei nicht codierten F-Diagnosen nachzuweisen, dass eine psychosomatische Problematik vorlag. Auch dies tat der Arzt. 

Es zeigt sich einmal mehr, dass es sich für den Arzt auszahlt, sich die Zeit zu nehmen, die Praxisbesonderheiten im Einzelnen herauszuarbeiten und gegenüber der Prüfstelle zu belegen, auch wenn er damit in manchen Fällen nicht sogleich Gehör findet sondern vielmehr erst vor dem Gericht Recht erhält. 

In der Folge war der Regressbescheid aufzuheben. Die Prüfstelle muss nun neu über den Fall des Hausarztes entscheiden. Es ist davon auszugehen, dass der Kürzungsbetrag nun deutlich geringer ausfallen wird.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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