Regress wegen Vielzahl abgerechneter Gesprächsleistungen(7.2.2024) Ein pauschaler Vortrag des von dem Regress betroffenen Arztes, mehr Patienten mit bestimmten (psychosomatischen) Erkrankungszuständen zu behandeln als andere Praxen, reicht regelmäßig nicht aus, um sich gegen einen Regress zu verteidigen - dazu muss der Arzt detailliert und unter Beifügung von Belegen vortragen. Auf Vertrauensschutz kann sich ein Arzt nur berufen, wenn die Prüfstelle ihm schriftlich mitgeteilt hätte, in welchem Umfang er bestimmte Leistungen nunmehr oder in Zukunft als wirtschaftlich erbracht angesehen werden könnten - und dies war vorliegend nicht geschehen (Landessozialgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 21.11.2023 - L 4 KA 5/22).

Der Fall: 

Eine Fachärztin für Allgemeinmedizin wurde von der Prüfstelle im Jahr 2006 wegen einer hohen Zahl abgerechneter Versichertenpauschalen beraten (ihre Zahlen waren doppelt so hoch wie die des Fachgruppendurchschnitts). 

Eine für die Quartale I/2011 bis II/2013 und III/2013 eingeleitete Einzelleistungsprüfung der GOPen 35100 und 35110 EBM der Allgemeinmedizinerin wurde wegen einer parallel von der Beigeladenen zu 7. durchgeführten Plausibilitätsprüfung für die Quartale II/2011 bis III/2014 ruhend gestellt und – nach dortigem Abschluss und Kürzung von Leistungen (GOP 35100 EBM um 50 vH und GOP 35110 EBM um 30 vH) – mit Entscheidung der Prüfungsstelle vom 25. November 2015 eingestellt. Es hieß dort: „Zwar werden auch nach Durchführung der vorbeschriebenen Maßnahme überdurchschnittliche Ansatzfrequenzen ausgewiesen, dennoch sieht die Prüfungsstelle nach der sachlich-rechnerischen Korrektur keinen Anlass für eine weitergehende Wirtschaftlichkeitsprüfung“.

Anfang 2017 informierte die Prüfstelle die Ärztin darüber, dass die Anzahl der abgerechneten GOPen 35100 EBM  und 35110 EBM in den Quartalen IV/2014 bis III/2015 den doppelten Fachgruppendurchschnitt überschritten hätten.

Die Ärztin teilte mit, die Praxis mit dem Schwerpunkt in der Betreuung psychosomatischer Erkrankungen im Jahr 2010 übernommen und fortgeführt zu haben sowie als weiteren Schwerpunkt Patienten mit palliativmedizinischem Ansatz zu behandeln. Beide Schwerpunkte bedingten die überdurchschnittlich häufige Erbringung und Abrechnung von Gesprächsleistungen und sei eine zu berücksichtigende Praxisbesonderheit. Die psychotherapeutische Versorgung in N1 sei nicht hinreichend, was sie in ihrer Praxis aufgefangen habe, bis eine Psychotherapie habe begonnen werden können.

Die Prüfstelle regressierte die Ärztin für den Zeitraum 2014 bis 2016 für Gesprächsleistungen GOP 35100 und 35110 mit rund EUR 50.000. Dagegen klagte die Ärztin mit Erfolg - das Sozialgericht Kiel hob den Regressbescheid auf. Denn die Prüfstelle habe die Ärztin nicht vor dem Regress beraten (Stichwort: "Beratung vor Regress")

Die KV legte Berufung zum Landessozialgericht ein. 

Die Entscheidung:

Das Landessozialgericht bestätigte nun die Regressbescheide.

Das Gericht monierte, dass die Ärztin Praxisbesonderheiten für das Jahr 2014 und folgende verspätet und zu detailarm vorgetragen habe: Sie habe diesbezüglich keinen detaillierten Vortrag zur Akte gereicht, der patientenbezogen wenigstens beispielhaft nachvollziehbar erscheinen ließe, dass sich in ihrer Praxis in einem solchen Ausmaß mehr Patienten mit psychosomatischen Krankheitszuständen einfinden als in der Vergleichsgruppe. Der pauschale Vortrag der Ärztin, mehr Patienten mit bestimmten Erkrankungszuständen zu behandeln als andere Praxen, reiche regelmäßig nicht aus, um eine Praxisbesonderheit zu begründen.

Die Prüfstelle musste die Ärztin vor dem Regress für das Jahr 2014 und folgende auch nicht beraten. Denn die Ärztin hatte den Fachgruppendurchschnitt nicht erstmalig überschritten - vielmehr hatte sie dies schon im Jahr 2006 getan und die Ärztin war damals auch schon entsprechend beraten worden. Überdies entfalle die Pflicht zur vorgehenden Beratung, wenn - wie hier - der Ärztin mit der mehrfachen Überschreitung des doppelten Vergleichsgruppendurchschnitts – ein Mehraufwand im Ausmaß eines sogenannten offensichtlichen Missverhältnisses anzulasten ist.

Schließlich könne sich die Ärztin eben wegen diesem erheblichen Überschreiten des Fachgruppendurchschnitts auch nicht darauf berufen, dass sie Vertrauenschutz genieße. Im Falle eines Überschreitens des doppelten Vergleichsgruppendurchschnitts greife so oder so kein Vertrauensschutz ein.

Praxisanmerkung:

Die Wertungen des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein liegen auf der Linie der Rechtsprechung der höheren Gerichte und sind damit nachvollziehbar und nicht zu beanstanden.

Vertrauensschutz kommt mithin nur dann in Betracht, wenn die Prüfstelle schriftlich und konkret dem Arzt mitteilt, dass bestimmte Abrechnungszahlen (z.B. 400 GOP 35100 je Quartal) auch künftig nicht zu beanstanden sind. Dies ist aber in der Praxis ein absoluter Ausnahmefall. Meist erhält ein Arzt auch nur mündliche Erklärungen einzelner Mitarbeiter der Prüfstelle - diese sind rechtlich irrelevant und begründern keinerlei Vertrauensschutz. Gleiches gilt erst recht für Aussagen der Abrechnungsberatung der Kassenärztlichen Vereinigung. Dies zeigt einmal mehr, dass sich Ärzte in Regressverfahren nur in Ausnahmefällen auf Vertrauensschutz berufen können.

Praxisbesonderheiten (zum Beispiel besondere Patientenklientel mit besonderen Behandlungsbedarf) können Überschreitungen des Fachgruppendurchschnitts durchaus rechtfertigen, aber nur, wenn der betroffene Arzt sie detailliert (das heißt patientenbezogen) vorträgt. Dass der Arzt seiner Darlegungs- und Beweislast nur nach einer - unter Umständen aufwendigen - Auswertung der gespeicherten Daten gerecht werden kann, steht dem nicht entgegen. Gleichwohl lohnt es sich nach meiner Erfahrung regelmäßig durchaus für den Arzt, seine Behandlungsdokumentationen auszuwerten und im Einzelnen vorzutragen. 

Der Arzt muss Praxisbesonderheiten auch rechtzeitig vortragen: Macht ein Arzt Praxisbesonderheiten (zum Beispiel wie hier: Praxis habe Schwerpunkt in psychosomatischen und folglich gesprächsintensiven Leistungen) erst im Gerichtsverfahren geltend, so ist dies zu spät - er muss diese bereits im Prüfverfahren vor den Prüfgremien der Kassenärztlichen Vereinigung geltend machen. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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