Neugeborenes ohne Geburtsschaden(12.2.2024) Auch wenn keine rechtliche Pflicht zu einer bestimmten Diagnostik (hier: Fertigen eines CTG) bestand, muss der Arzt doch die Ergebnisse dieser durchgeführten Diagnostik (hier: CTG war auffällig) beachten und ihnen weiter nachgehen. Erkennt der Arzt einen Befund (hier Bandbreite von 25 Schlägen pro Minute), ordnet diesen aber (fälschlicherweise) als nicht auffällig ein, so liegt (nur) ein Diagnoseirrtum des Arztes vor, nicht aber ein (schwerwiegenderer) Diagnoseirrtum. Unterläßt der Arzt in Folge eines (einfachen) Diagnoseirrtums aber weitere Diagnostik, so darf dies wegen der Sperrwirkung des Diagnoseirrtums nicht als (zusätzlicher) Befunderhebungsfehler gewertet werden. Ist der Diagnoseirrtum dagegen allerdings als grob einzuschätzen, so greift diese Sperrwirkung nicht ein, so dass in der Folge doch ein grober Fehler vorliegt. Im Ergebnis haftete die Gynäkologin für den Hirnschaden des Kindes vollumfänglich (OLG München, Urteil vom 25. Januar 2024 – 24 U 2058/22).

Der Fall:

Errechneter Geburtstermin der Frau M. war der 09.06.2005. Die bisherige Schwangerschaft war im wesentlichen komplikationslos verlaufen. Am 24.05.2005 war Frau M. zur Untersuchung bei der beklagten Gynäkologin, in deren Praxis über einen Zeitraum von 20 Minuten ein CTG aufgezeichnet wurde. Das CTG zeigte zuletzt eine Bandbreite in der Herzfrequenz des Kindes von mehr als 25 Schlägen innerhalb einer Minute. Die Ärztin sah dies als normwertig an und veranlasste keine weiteren Untersuchungen. 

In den Tagen nach dem 24.05.2005 stellte die Schwangere fest, dass die Kindsbewegungen weniger wurden, was sie auf den näher rückenden Geburtstermin zurückführte. Am 31.05.2005 stellte sie sich erneut bei der Beklagten vor. Die Arzthelferin legte (über einen Zeitraum von 25 Minuten) ein CTG an. Es kam zu Alarmtönen; die Arzthelferin legte mehrfach an und suchte die Herztöne des Kindes. Der Rettungsdienst wurde gerufen (aus Sicht der Klägerin zu spät). Das Kind wurde am selben Tage nach Notkaiserschnitt mit einem schweren Hirnschaden geboren.

Die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung des Kindes warfen der Gynäkologin erhebliche Fehler vor und verlangten Ersatz der erheblichen Behandlungs- und Pflegekosten von ihr. 

Das Landgericht bejahte mehrere Fehler der Gynäkologin und verurteilte sie zur Haftung dem Grunde nach. 

Dagegen richtet sich die Berufung der beklagten Gynäkologin, die u.a. einwendet, ihr Befund des CTG vom 24.5.2005 sei nicht fehlerhaft, zumal das CTG zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht erforderlich gewesen sei. CTGs seien auch äußert fehleranfällig.

Die Entscheidung:

Das Gericht verwarf die Berufung der Ärztin als unbegründet. 

Der Ärztin sei eine Reihe grober Fehler vorzuwerfen:

Zeige sich bei der Aufzeichnung des CTG ein auffälliger Befund (hier: ersichtliche Bandbreite in der Herzfrequenz des Kindes von mehr als 25 Schlägen innerhalb einer Minute), so müsse der Arzt das CTG weiterlaufen lassen, um zu ermitteln, wie sich das weiter entwickelt. Breche der Arzt dann aber das CTG ab, ohne etwa andere Untersuchungen durchzuführen, so sei dies ein grober Befunderhebungsfehler.

Zwar hätte die Ärztin zu diesem Zeitpunkt nach dem allgemeinen medizinischen Standard noch kein CTG durchführen müssen. Führe sie aber eine Untersuchung durch und zeige diese einen auffälligen Befund, so muss der Arzt diesen Fund beachten. 

Dass CTG fehleranfällig und daher nicht vertrauenswürdig seien, ließ das Gericht nicht als Entschuldigung gelten. Selbst wenn CTG nur in 20 % der Fälle richtige Werte zeigten, müsste der Arzt einem auffälligen Befund nachgehen.

Es stelle einen groben (Diagnose)Fehler der Ärztin dar, wenn sie eine im CTG ersichtliche Bandbreite in der Herzfrequenz des Kindes von mehr als 25 Schlägen innerhalb einer Minute als normal einschätzt. Zu diesem Ergebnis kommt das Gericht nach Anhörung des medizinischen Sachverständigen.

Es sei im Jahr 2005 medizinischer Standard gewesen, ein CTG mindestens 30 Minuten aufzeichnen zu lassen.

Unterläßt der Arzt in Folge eines (einfachen) Diagnoseirrtums weitere Diagnostik, so darf dies wegen der Sperrwirkung des Diagnoseirrtums grundsätzlich nicht als (zusätzlicher) Befunderhebungsfehler gewertet werden. Ist der Diagnoseirrtum dagegen allerdings als grob einzuschätzen, so greift diese Sperrwirkung nicht zu Gunsten der Gynäkologin ein.

In der Summe bejahte das Gericht zwei grobe ärztliche Behandlungsfehler der Ärztin: Erstens einen groben Diagnoseirrtum (Bandbreite von 25 als normal angesehen) und zweitens einen groben Befunderhebungsfehler (CTG nach 20 Minten abgeschaltet). Deswegen kehrte das Gericht die Beweislast zu Gunsten des geschädigten Kindes um. Wegen dieser Beweislastumkehr sah das Gericht die Fehler der Ärztin auch ohne weiteres als ursächlich für den nach der Geburt offenbar gewordenen schweren Hirnsschaden des Kindes an.

Da schon das Verhalten der Gynäkologin am 24.5.2005 grob fehlerhaft war, komme es für die Entscheidung des Gerichts nicht mehr darauf an, ob auch das Verhalten der Gynäkolgin vom 31.5.2005 fehlerhaft gewesen sei.

Praxisanmerkung:

Dem Gynäkologen steht eine Vielzahl von Untersuchungsmöglichkeiten der Schwangeren zur Verfügung: Ultraschall, Sonografie und CTG, Blutuntersuchungen, Urinuntersuchungen, Fruchtwasseruntersuchung etc. Die vorliegende Entscheidung zeigt einmal mehr, dass der Gynäkologe gut beraten ist, lieber zu viel als zu wenig zu untersuchen. Auch sollte er Zufallsfunden engagiert und bis zum sicheren Auusschluß eines pathologischen Befundes nachgehen. Schon kleinere Auffälligkeiten sollten den Gynäkologen zu weiterer und tiefergehender Diagnostik veranlassen. Denn der bei Fehlern des Gynäkologen eintretende Gesundheitsschaden in der Geburtshilfe ist immens, ja katastrophal. Der Patientenschutz hat hier absoluten Vorrang vor wirtschaftlichen oder gebührenrechtlichen Erwägungen des Arztes. Erfahrungsgemäß zeigen die Gerichte mit Ärzten, die medizinisch gebotene Diagnostik unterlassen, keinerlei Nachsicht, sondern verurteilen diese ohne weiteres zu erheblichen Schadensersatz- und Schmerzensgeldzahlungen. Hinzu treten können approbationsrechtliche und strafrechtliche Verfahren gegen den Arzt. Und da der medizinische Standard auch für einen praktizierenden Arzt nicht einfach zu ermitteln ist, sollte der Arzt den für alle Beteiligten sichersten Weg gehen und die diagnostischen Mittel der Pränataldiagnostik immer voll ausschöpfen, soweit dies ohne Gefährdung der Gesundheit von Kind und Mutter möglich ist.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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