(3.2.2020) Ein akuter Gefäßverschluss der Hand ist zeitnah durch eine Rekanalisation zu behandeln. Zwar existieren zur Rekanalisation keine Leitlinien, der ärztliche Standard gebietet es dem Arzt aber, eine verstopfte Arterie der Hand umgehend operativ zu öffnen, auch wenn der Patient an Diabetes Mellitus erkrankt ist und zuvor unter erheblichen Blutungen litt. Das Nichthandeln ist daher ein grober Behandlungsfehler. Der Patient, dem infolgedessen der Daumen sowie der Zeigefingers und Teile des Mittelfingers amputiert werden mussten, kann von dem Arzt ein Schmerzensfgeld von 50.000 € verlangen (Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 19.11.2019 - 26 U 30/19).

Verlust mehrerer Finger einer Hand wegen BehandlungsfehlerDer Fall: 

Ein seit langem an Diabetes Mellitus leidender Patient mit Dialyse von 2011 bis 2013, diabetische Polyneuropathie, Retinopathie, schwere Arteriosklerose, Zustand nach Nieren-Pankreastransplantation mit Immunsuppression, erlitt 2014 erhebliche gastrointestinale Blutungen, die ab dem 16.02.2014 von der beklagten Klinik behandelt wurden. Die Blutungen konnten operativ unter Kontrolle gebracht werden. 

Postoperativ zeigte sich danach eine livide Verfärbung der rechten Hand, die sich am 20.02.2014 als Folge eines Verschlusses der Arteria radialis nach einer Dissektion darstellte. Zudem bestand ein chronischer Verschluss der Arteria ulnaris. Der arterielle Hohlhandbogen war ebenfalls unterbrochen, so dass eine Minderdurchblutung der Daumenseite der rechten Hand vorlag. Während sich nach weiterer operativer Behandlung der Allgemeinzustand des Klägers verbesserte, kam es bei der rechten Hand zu einer allmählichen Verschlechterung bis hin zu einer Teilmumifizierung.

Deshalb wurde unter anderem am 06.03.2014 eine Rekanalisation der rechten Speichenarterie vorgenommen. Dies blieb erfolglois. 

Letztlich musste am 19.06.2014 die Amputation der mumifizierten Teile durchgeführt werden.

Das Landgericht holte medizinische Gutachten ein, die einen groben Fehler bejahten und sprach dem Kläger ein Schmerzensgeld von 50.000 € zu, wogegen die Klinik Berufung einlegte. Die Klinik argumentierte u.a., die Rekanalisiation sei kontraindiziert gewesen und dazu hätten auch keine ärztlichen Leitlinien bestanden, die ein Handeln geboten hätten.

Die Entscheidung: 

Das Oberlandesgericht wies die Berufung zurück und bestätigte den groben Behandlungsfehler. 

Spätestens am 22.02.2014 nach der erfolgreichen Notfallbehandlung durch die Bauchoperation und dem Abschluss der Noradrenalin-Therapie hätte es aber dem medizinischen Standard entsprochen, sich nunmehr den Durchblutungsstörungen der Hand zuzuwenden.

Zutreffend sei zwar, dass es für den vorliegenden Fall keine geschriebenen Leitlinien gibt. Gleichwohl existierte ein medizinischer Standard, also dasjenige Verhalten, das von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Standard der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.

Diesen Anforderungen entspräche das Verlangen beider Sachverständigen nach unverzüglichem Handeln nach der Beendigung der Notfallsituation. Der Sachverständige Prof. Dr. M hat dazu darauf hingewiesen, dass ansonsten die Gefahr einer sich weiter verschlechternden Mangeldurchblutung und die Befürchtung eines Funktionsverlustes bestanden haben. Dabei hat er sich an den Grundsatz in der Gefäßchirurgie gehalten: Eine akute Ischämie ist akut zu behandeln. Es erscheine überzeugend, dass andernfalls ohne Behandlung eine laufende Verschlechterung zu erwarten war. Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. M hat des weiteren aufgrund seiner Erfahrung darauf hingewiesen, dass am 22.02.2014 noch eine Heilungschance von 50 % existierte, die sich aber laufend verschlechterte. Schon 10 Tage später bestanden Nekrosen, die irreversibel gewesen sind. Zur Zeit des ersten zielgerichteten Vorgehens am 06.03.2014 waren sodann die Erfolgschancen mit 0 % zu bewerten.

Die Beklagte könne sich auch nicht darauf berufen, dass ein Eingriff bei dem Kläger wegen der sonstigen Erkrankungen kontraindiziert gewesen sei.

Die Sachverständigen sind anderer Ansicht: Zu diesem Zeitpunkt bestanden aus ihrer Sicht keine weiteren Risiken bei einer Rekanalistaion.

Praxisanmerkung:

Der akute Gefäßverschluss muss also schnell behandelt werden. Regelmäßig ist eine Rekanalisation auch nicht kontraindiziert. Die Entscheidung ist auch nachvollziehbar, weil eine Rekanalistion allenfalls das Risiko weiterer Blutungen nach sich gezogen hätte im peripheren Bereich (mithin wahrscheinlich gut kontrollierbar), während das Risiko des (Teil-)Verlust der Hand schwerer wiegt. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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