(24.9.2020) Immer wieder streiten sich Patienten mit ihren Krankenkassen über die Kostenübernahme der Behandlung mit medizinischem Cannabis. Für die behandlenden Ärzte ist dies eine rechtlich unsichere Situation. Eine aktuelle Entscheidung des Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zeigt, in welchen Fällen die Kasse die Kosten übernehmen muss und wie der Arzt den Einsatz des Medikaments mittels eines umfassenden Arztbriefes begründen sollte (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. August 2020 – L 9 KR 223/20 B ER).
Der Fall:
Die im Jahre 1974 geborene Patientin bezieht eine Erwerbsminderungsrente. Sie leidet im Wesentlichen an einem stark ausgeprägten Restless-Legs-Syndrom mit massiven Schlafstörungen, einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einer Migräne, einer rezidivierenden depressiven Störung, einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (Borderline) und einem Tinnitus.
Ihre behandelnde Fachärztin für Neurologie hat sie bereits mit verschiedenen Arzneimitteln und nichtmedikamentösen Behandlungen versorgt - ohne bei massiven Nebenwirkungen einen ausreichenden Behandlungserfolg zu erwirken. Laut Arztbrief der Neurologinhält sie in einem nächsten Schritt „als Ultima Ratio in diesem schweren Fall (…) einen Therapieversuch mit Cannabis in Form von Dronabinoltropfen für indiziert“, sie erhoffe sich eine Verbesserung der Krankheitssymptome und sehe keine Alternative. Zum Beleg einer möglichen positive Einwirkung der Dronabinoltropfen auf den Krankheitsverlauf zitiert die Ärztin sodann mehrere Studien zur Behandlung des bei der Antragstellerin im Vordergrund stehenden Restless-Legs-Syndroms mit Medizinalcannabis. Auf dieser wissenschaftlichen Basis erhofft die Ärztin sich eine Symptomverbesserung sowie eine Reduktion der übrigen nebenwirkungsbehafteten Medikamente.
Die Krankenkasse der Patienten lehnte gleichwohl eine Versorgung mit Dronabinol ab. Es liege eine Ausnahmefall vor, der eine Ablehnung der Versorgung rechtfertige.
Die Patientin rief das Sozialgericht an und bat um eine vorläufige Versorgung mit Dronabinol. Das Sozialgericht Neuruppin wies den Antrag als unbegründet zurück. Die Patientn rief das Landessozialgericht an.
Die Entscheidung:
Das Landessozialgericht verpflichtete die Krankenversicherung der Patientin, die Kosten der Behandlung mit Dronabinol vorläufig - bis zur Klärung des Hauptsacheverfahrens - zu übernehmen.
Denn die rechtlichen Voraussetzungen für eine Versorgung mit Dronabinol liegen aus Sicht des LSG vor:
Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung u.a. mit Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Dronabinol, wenn
- eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann
- oder eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
- und vor Beginn der Leistung eine Leistung beantragt wurde
- sowie: die Kasse darf die Genehmigung der Leistung bei der ersten Verordnung nur in begründeten Ausnahmefällen ablehnen
Hier lag aus Sicht des LSG die "begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes" vor:
Das Restless-Legs-Syndrom ist aus Sicht des Gerichts eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung.
Das Landessozialgericht sieht den Arztbrief und den Befundbericht der Ärztin als schlüssig, geordnet, mit Nachdruck und in der Sache überzeugend an. Darin habe sie ausgeführt, dass ämtliche medikamentösen Möglichkeiten angewandt worden seien, ohne bei massiven Nebenwirkungen einen ausreichenden Behandlungserfolg zu erwirken. Dabei schildere sie im Einzelnen die jeweiligen, auch nichtmedikamentösen Behandlungsansätze. Aus Sicht der Ärztin sei bei gleichbleibendem Leiden die (nicht)medikamentöse Therapie ausgeschöpft, die Antragstellerin sei „austherapiert“. In einem nächsten Schritt hält die Ärztin „als Ultima Ratio in diesem schweren Fall (…) einen Therapieversuch mit Cannabis in Form von Dronabinoltropfen für indiziert“, sie erhoffe sich eine Verbesserung der Krankheitssymptome und sehe keine Alternative. Zum Beleg einer möglichen positive Einwirkung der Dronabinoltropfen auf den Krankheitsverlauf zitiert die Ärztin sodann mehrere Studien zur Behandlung des bei der Antragstellerin im Vordergrund stehenden Restless-Legs-Syndroms mit Medizinalcannabis. Auf dieser wissenschaftlichen Basis erhofft die Ärztin sich eine Symptomverbesserung sowie eine Reduktion der übrigen nebenwirkungsbehafteten anderen Medikamente.
Damit habe die Ärztin die Voraussetzungen für einen Gewährung der Leistung ärztlich "nicht besser" vortragen können, so das Gericht.
Praxisanmerkung:
Nur eine mit einer geordneten und umfassenden Falldarstellung versehene und schlüssige Darstellung der Krankheitsgeschichte und der bisher (erfolglos) angewandten Behandlungen und des Behandlungsziels kann eine Kostenübernahme für medizinisches Cannabis begründen. Das bringt für den behandelnden Arzt zuersteinmal einiges an Schreibarbeit mit sich. Diese lohnt sich aber, wie diese gerichtliche Entscheidung zeigt. Begründet der Arzt dagegen seinen Therapieplan mit Cannabis zuerst oberflächlich, so spart er damit keine Zeit ein, weil er dann von dem Patienten, der von seiner Kasse eine Leistungsablehnung erhalten hat, um eine vertiefte Begründung gebeten wird - die wiederum Arbeit verursacht. Der so vorgezeichnete Weg erspart dem Arzt auch zeitraubende Auseinandersetzungen mit seinem Patienten.
Die Entschiedung zeigt auch, dass es für den Patienten sinnvoll ist, vor Beginn der Behandlung eine schriftliche Leistungsanfrage bei seiner Krankenversicherung einzureichen und einen umfassenden Arztbrief bzw. Befundbericht beizufügen. Dagegen ist es in der Regel nicht empfehelenswert, zuerst die Behandlung zu beginnen und dann erst die Erstattung der Kosten zu verlangen, weil dies mit dem Risiko behaftet ist, dass der Patient die Kosten selbst übernehmen muss.